"Microsoft ist durchaus innovativ"

Rick Rashid, Leiter von Microsoft Research, über den Forschungsansatz des Softwareriesen – und warum er glaubt, dass das Unternehmen in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht hat.

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Von
  • Jason Pontin

Rick Rashid hat eine lange IT-Forscher-Karriere hinter sich. Bevor er Anfang der Neunzigerjahre zu Microsoft Research stieß, wo er heute für die weltweite Forschungstätigkeit zuständig ist, war er als Informatikprofessor an der Carnegie Mellon University tätig. Zu seinen bekanntesten Arbeiten gehört der Kernel des Mach-Betriebssystems, der wiederum NEXTSTEP und damit auch das Apple-System Mac OS X prägte.

Technology Review: Herr Rashid, wie kann es sein, dass Microsoft Research es trotz seines riesigen Budgets nicht schafft, neue und überzeugende Schnittstellen für den PC zu entwickeln?

Rick Rashid: Diese Frage muss ich als Unterstellung zurückweisen. Jeder, der heute einen PC benutzt, erlebt doch etwas ganz anderes als noch vor fünf oder gar zehn Jahren. Meine Frau kommuniziert beispielsweise mit ihrer Verwandtschaft nahezu ausschließlich über unsere MSN-Sprach- und Video-Dienste – sie ruft ihre Schwester nahezu täglich mit ihrer Webcam an. Das ist doch wohl neuartig und überzeugend! Oder überlegen Sie sich, wie die Leute heutzutage Musik nutzen. Auch das wurde doch durch neue PC-Technologien erreicht, etwa im Peer-to-Peer-Bereich.

Wir haben die Handschrifterkennung mit dem TabletPC eingeführt, der besonders im universitären Bereich zu deutlichen Veränderungen geführt hat, wie die Menschen ihre Rechner nutzen. All diese heute so aktuellen Web-2.0-Dinge und das dynamische HTML hat Microsoft doch in den Neunzigerjahren entwickelt!

Schauen Sie sich außerdem einmal an, wie wir heute 3D-Funktionen im neuen Windows Vista einsetzen. Auch das ist neu! Es ist doch typisch, wenn Menschen eines bestimmten Alters sagen: "Es gibt nichts Neues mehr auf der Welt, das goldene Zeitalter ist vorbei." Aber das stimmt einfach nicht.

TR: Dann lassen Sie es mich anders formulieren. Warum ist heutige PC-Software nicht besser? Warum besitzen so wenige Programme eine einfache, elegant gestaltete Oberfläche, wie sie beispielsweise Apples iPod besitzt?

Rashid: Die Frage würde ich selbst ein bisschen anders stellen. Ich würde fragen: Warum sind die meisten Schnittstellen von Consumer-Produkten so schlecht? Die meisten Menschen können ja noch nicht einmal die Uhr an ihrem DVD-Player programmieren. Das ist meist eine ziemlich gut versteckte Funktion. Aber um Ihre Frage direkt zu beantworten: Es gibt heute über 800 Millionen Menschen, die mit einem PC arbeiten, dementsprechend kann Software doch nicht ganz so schlecht sein, wie Sie das darstellen.

Die Leute verwenden ihre Computer für die unterschiedlichsten Dinge. Die meisten besitzen unterschiedliche Kenntnisstände. Eine der großen Herausforderungen für eine Firma wie Microsoft ist doch, dass unsere Technologie so breit eingesetzt wird. Wir müssen uns damit beschäftigen, dass unsere Schnittstellen auf der ganzen Welt verstanden werden müssen – und zwar von Menschen mit ganz verschiedenen Fähigkeiten. Wenn Sie ein Betriebssystem entwickeln wollen, das bei Menschen mit Behinderungen genauso funktioniert wie bei solchen mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen, verändert das den Design-Prozess doch sehr.

Und um auf Ihre Anspielung mit dem iPod zurückzukommen: Natürlich kann man sich ein solches Gerät ansehen und es toll finden. Aber was leistet ein iPod denn schon? Doch nicht besonders viel. Zusammengefasst: Wenn man Schnittstellen für eine Maschine entwickeln muss, die viele Menschen anspricht und viele Funktionen besitzt, überlädt man das Betriebssystem entweder mit Features oder schränkt es zu sehr ein. Beides ist unbefriedigend.

TR: Würde sich die bestmögliche Schnittstelle nicht dann einfach an die Aufgaben und Fähigkeiten des Nutzers anpassen?

Rashid: Ganz genau! Ein bisschen davon können Sie bereits in unseren heutigen Interfaces sehen. In verschiedenen Microsoft-Anwendungen setzen wir ein System ein, das die Menüs anhand von Nutzungsmustern dynamisch anpasst. So werden etwa Dinge ausgeblendet, die nicht häufig verwendet werden. Das sind aber nur ganz kleine Schritte. Im Web ist das anders. Sobald man sich beispielsweise bei Amazon anmeldet, weiß das Unternehmen schon sehr viel über den Nutzer. Wenn mich jemand fragt, was wir mit dem ganzen Speicher und der gesteigerten CPU-Leistung der nächsten zehn Jahre anfangen sollen, antworte ich gern: dynamische Personalisierung.

TR: Was ließe sich sonst noch mit der Leistungsfähigkeit eines Rechners der Zukunft anstellen?

Rashid: Eines unserer Forschungsprojekte beschäftigte sich vor einigen Jahren mit der Frage, was man mit all den Informationen, die man über die Nutzung eines Rechners besitzt, anfangen könnte. Logischerweise weiß der Computer, wo jeder Teil eines Textes in einem Dokument herstammt. Wurde er selbst eingetippt? Wurde er eingefügt und, wenn ja, aus welcher Quelle? Lief er per E-Mail ein? Und so weiter. Wenn man das einmal extrapoliert, ließen sich mächtige Dinge anfangen mit dem Wissen, wo Informationen herkommen.

TR: Was zum Beispiel?

Rashid: Im Unternehmensumfeld ließe sich das als gute Quelle im Bereich Business Intelligence verwenden. Für Einzelanwender ergäbe sich womöglich eine ganze Lebensgeschichte. Eines unserer Forschungsprojekte im britischen Cambridge nennt sich "SenseCam". Das ist ein Gerät, das man später einmal um den Hals tragen könnte. Es ist eine Art "Black Box" für den Menschen. Es besitzt eine Kamera mit 180-Grad-Aufnahme, enthält Tonsensoren, Wärmesensoren und Beschleunigungssensoren – was man so braucht. Die Idee dabei: Wir sind bald so weit, so viel Speicherplatz zu besitzen, wie das menschliche Gedächtnis – und noch mehr. Dann wird es uns möglich sein, jede einzelne Unterhaltung zu speichern, die wir jemals geführt haben – bis zum Tod. Jede Unterhaltung – und das würde nur ein Terabyte an Speicherplatz benötigen und vielleicht 500 Dollar kosten. Oder man zeichnet alles, was man gesehen hat, auf Video auf – auch das braucht nur ein Terabyte, hier allerdings im Jahr. Man könnte das alles speichern. So ließe sich das menschliche Gedächtnis erweitern, wie man es bislang nur aus Sciencefiction-Plots kennt. Das war bis heute nahezu unmöglich. Das Interessante daran: Niemand würde mehr Teile seines Lebens verlieren. Mein Vater verstarb vor wenigen Jahren. Wie wertvoll wäre es für mich heute, wenn ich eines der Gespräche, die wir führten, zurückbekommen könnte?

TR: Das Leben war bislang auch ein Prozess des Vergessens.

Rashid: Aber so müsste es nicht mehr sein. Ich habe noch nicht einmal eine Aufzeichnung der Stimme meines Vaters!

Eines der Ergebnisse aus dem SenseCam-Projekt fand ich persönlich sehr ergreifend: Unsere Forscher gaben das Gerät einer Frau, die aufgrund einer Hirnhautentzündung nahezu alles vergaß, was länger als einen Tag zurücklag. In der Vergangenheit wäre man damit umgegangen, indem beispielsweise ein Verwandter ein Tagebuch für sie geführt hätte. Wir erkannten aber, dass es bei dieser Frau möglich war, durch die Aufzeichnung des jeweiligen Tages auf Video auch Erinnerungen an Ereignisse hervorzurufen, die einen Monat zurücklagen. Die Technik hat ihren Geist stimuliert. Wenn ich über die Zukunft der IT nachdenke, sind es solche Entwicklungen, die ich am spannendsten finde.

Übersetzung: Ben Schwan. (wst)