Systemmanagement im alten Ägypten

Mit Hilfe einer Produktsimulationssoftware hat der französische Architekt Jean-Pierre Houdin eine neue Theorie entwickelt, die endlich den Bau der Cheops-Pyramide erklären könnte – nun soll sie vor Ort bewiesen werden.

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Von
  • Niels Boeing
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Seit zwei Jahrhunderten zerbricht man sich im Westen den Kopf, wie die alten Ägypter den Bau der Cheops-Pyramide bewerkstelligt haben könnten. Als sie sie vor gut 4500 Jahren auf dem Plateau von Gizeh am Rande des Niltals als erste der drei dortigen Pyramiden errichteten, waren weder das Rad noch irgendwelche anderen ausgefeilten Transportmaschinen in Gebrauch. Die gängigen Theorien trauen den Ägyptern denn auch nicht viel zu. Irgendwie soll ein Heer von Sklaven, davon gab es schließlich genug, die tonnenschweren Steinquader mühevoll über eine riesige Rampe geschleppt und aufgeschichtet haben. Für den spanischen Philosophen und Techniktheoretiker José Ortega y Gasset war der Pyramidenbau das Paradebeispiel für eine primitive „Technik des Zufalls“, in der die ägyptischen Baumeister „ohne jede Regel, ohne jede Methode“ vorgingen. Für andere, spekulativere Geister muss es gar das Werk von Außerirdischen gewesen sein.

Nicht so für Jean-Pierre Houdin. Der französische Architekt hat eine einleuchtende Hypothese entwickelt, nach der die Ägypter den gewaltigen Bau im Rahmen ihrer damaligen technischen Möglichkeiten äußerst planvoll und effizient bewältigt haben könnten. Um die prinzipielle Machbarkeit seiner Hypothese zu untermauern, hat er sie zusammen mit dem französischen Softwarehersteller Dassault Systèmes mit einer Software durchgespielt, die zum Simulieren und Testen von komplexen Produkten wie Flugzeugen oder auch von Gebäuden genutzt wird. Das Ergebnis haben Houdin und Dassault am Freitag in Paris vorgestellt: Danach hätten eine Belegschaft von durchgängig 4000 Arbeitern innerhalb von 23 Jahren die schätzungsweise drei Millionen Steinblöcke sehr wohl zu dem 146 Meter hohen Monument aufschichten können – und zwar ohne Riesenrampen oder gar Hilfe von Aliens.

Houdins Hypothese ruht auf drei Annahmen: eine äußere Rampe zum Anliefern der Steine wurde nur in der ersten Bauphase bis zu einer vergleichsweise geringen Höhe von 43 Metern genutzt; die gewaltigen, bis zu 63 Tonnen schweren Granitblöcke über der Königskammer wurden nach einem Fahrstuhlprinzip hochbugsiert; die restlichen Bauabschnitte verwendeten eine hinter der Fassade befindliche Rampe, die sich spiralförmig bis dicht unter die Spitze hochzog.

Den ersten Anstoß zu der Idee gab Houdins Vater, ebenfalls ein Architekt, Ende der Neunziger Jahre. Houdin Senior soll eine TV-Sendung über den Pyramidenbau gesehen und den Sohn gefragt haben, ob er nicht einmal eine innere Rampe zeichnen könne. Der war schließlich so besessen davon, dass er seinen Job an den Nagel hing, sich in die Ägyptologie vergrub und seine Hypothese auf Kongressen vorstellte. Auf einem hörte sie ein ebenfalls ägypten-begeisterter Unternehmer, der wiederum dem Ingenieur Richard Breitner von Dassault davon erzählte. Breitner hatte dort gerade ein Programm für innovative Anwendungen der Dassault-Softwaresuite für Product-Lifecycle-Management und 3D-Visualisierung gestartet. „Ich fand die Idee so faszinierend, dass ich Houdin gleich auf seinem Handy angerufen habe.“

Im Sommer 2005 startete dann das Projekt. Gemeinsam mit zwölf Mitarbeitern modellierten Houdin und Breitner ein Jahr lang die verschiedenen Bauabschnitte der Cheops-Pyramide in 3D, samt Statik und physischen Eigenschaften der Steinblöcke sowie den verschiedenen Zugmechanismen und Arbeitskräften auf der Baustelle. „Wir haben dabei versucht, die Perspektive der ägyptischen Baumeister einzunehmen“, sagt Breitner. „Das Ganze war eine Art Reverse Engineering.“