Macht Zwitschern Sinn?

In den USA und zunehmend auch in Europa geht der nächste "Web 2.0"-Trend um: Ein erstaunlich einfacher Messaging-Dienst namens Twitter bricht einen Nutzerrekord

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Man kann sich durchaus langsam die Frage stellen, wie verrückt "Web 2.0"-Geschäftsmodelle noch werden können. Der neue Online-Dienst Jott macht es beispielsweise möglich, Notizen auch von unterwegs zu erfassen, ohne dass man einen Computer bräuchte. Dazu ruft man mit seinem Handy einfach eine kostenlose Rufnummer an und spricht eine Sprachnachricht auf.

Und hier kommt dann auch das Verrückte an dem bislang nur für englischsprachige Nutzer verfügbaren Gratis-Service: Die aufgesprochenen Sätze werden nicht etwa mit Hilfe von moderner Spracherkennungstechnik in einen Fließtext umgesetzt, den man sich dann im Web oder per E-Mail zukommen lassen könnte. Stattdessen übernimmt ein freundlicher indischer Call-Center-Mitarbeiter diesen Job, der irgendwo in Bangalore, Mumbai oder Hyderabad den lieben langen Tag all das transkribieren muss, was Westler auf den Jott-Computer sprechen.

Im Gegensatz zu Jott, das außerhalb der USA noch kaum bekannt ist (und dessen Refinanzierungsmodell mindestens fragwürdig erscheint), macht der Messaging-Konkurrent Twitter einen deutlich weniger abgehobenen Eindruck. Auch hier werden kurze Texte und Handys kombiniert, wenn auch ohne Spracheingabe.

Der Dienst, den man wörtlich mit "Gezwitscher" oder auch "Geschnatter" übersetzen könnte, ermöglicht es Nutzern, kurze Nachrichten mit bis zu 140 Zeichen Länge über verschiedene Kanäle zu verbreiten - entweder öffentlich oder nur für Freunde lesbar. Die Frage, die der Dienst seine Nutzer beantworten lässt, ist simpel: "What are you doing?" Der Sinn: Mit Twitter soll man der Welt erklären, was man gerade tut - es ist also ein Zwischending aus Weblog und Instant Messaging-Dienst.

Mehr als 100.000 Twitter-Nutzer gibt es inzwischen. Sie beschicken ihre Kanäle entweder mittels Web, per IM-Software oder mit dem Handy per SMS. Andersherum lassen sich die Textnachrichten ebenfalls über alle drei Wege empfangen. Social-Networking-Elemente runden den Dienst ab.

Einwahlnummern bietet der Dienst in den USA sowie in Großbritannien - und er scheint süchtig zu machen. Inzwischen auch in Europa stärker vertreten, bietet er sowohl expressiven Menschen als auch "Lurkern" eine Plattform: Letztere können als so genannte "Follower" Kanäle ihrer Bekannten auch nur verfolgen, ohne selbst ihrem Mitteilungsbedürfnis frönen zu müssen. Alle paar Sekunden tauchen alle nicht privaten Texte außerdem in der "öffentlichen Zeitlinie" auf Twitter.com auf, wo sie jeder lesen kann.

Der Dienst wächst derzeit explosiv. Laut Biz Stone, Entwickler bei Twitter, verdoppelt sich die Mitgliederzahl inzwischen alle drei Wochen. "Updates", also Informationen über den aktuellen Status einer Person, werden inzwischen in gigantischen Mengen verschickt. Das "Gezwitscher" reicht dabei vom völlig Trivialen ("Habe gerade ein Gebot auf eBay abgegeben. Den Zuschlag bekomme ich ja sowieso nicht.") bis zum durchaus Poetischen ("Porträt eines Buchautors kurz vor der Deadline: Ich starre in meinen leeren Kühlschrank. Erdnussbutter, aber kein Brot. Frühstücksflocken, aber keine Milch. Wein, aber niemand, der ihn mit mir trinken könnte.").

Was dabei herauskommt, ist eine Art "Instant Blog": Alles kürzer und auf den Punkt, weil einfach grundsätzlich weniger Platz für die persönliche Botschaft vorhanden ist. Das ist so gewollt: Die Mitglieder mögen den Dienst, meint Entwickler Stone, weil die Nutzer mit ihren Freunden in Kontakt bleiben könnten, ohne sich um technische Details zu kümmern. Niemand müsse beispielsweise wissen, in welchem IM-Netz ein Bekannter sein Unwesen treibe oder welchen Handy-Provider er habe. "Wir halten Twitter für ein intelligentes, soziales Nachrichtenverteilsystem, bei dem es grundsätzlich egal ist, welches Gerät ein Nutzer einsetzt. Und die Leute wissen meistens erst dann, dass sie uns wirklich brauchen, wenn sie den Dienst zum ersten Mal ausprobiert haben." Twitter senke die technische Barriere: "Das einzige, was zählt, ist, was Du und Deine Freunde gerade tun."