Akkordarbeit im Web

Es gibt Aufgaben, bei denen jede Software versagt. Was für ein Glück, dass sich inzwischen ein Heer an menschlichen Helfern rekrutieren lässt: Über das Internet.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Wade Roush

Die See war ruhig an jenem 28. Januar vor der kalifornischen Küste, als der bekannte Computerwissenschaftler Jim Gray mit seiner 12-Meter-Yacht "Tenacious" San Francisco verließ. Gray wollte auf die Farallon-Inseln segeln, knapp 43 Kilometer hinter der Golden Gate Bridge, um dort die Asche seiner kürzlich verstorbenen Mutter zu verteilen. Doch er kam an jenem Tag nicht mehr zurück.

In den nachfolgenden 96 Stunden durchsuchte die US-Küstenwache den Ozean rund um die Inselgruppe, fand aber keine Spur von Gray. Seine Freunde und Kollegen weigerten sich allerdings, die Suche sofort aufzugeben. Der 63-jährige IT-Experte, der beim Microsoft-Konzern ein Technical Fellow war und zu den Pionieren bei der Datenbankentwicklung zählte, gehörte zu den beliebtesten Mitgliedern der US-Nerd-Gemeinde. Manager bei Amazon, Sun, Oracle, Google, Microsoft und anderen High-Tech-Firmen organisierten deshalb eine intensive private Suchkampagne. Sogar ein Flugzeug der NASA, ein Ableger des U-2-Spionagegleiters, kam zum Einsatz. Außerdem wurden Tausende von aktuellen Satellitenbildern durch das Kartographieunternehmen DigitalGlobe aufgenommen – alle aus dem Bereich, in den die "Tenacious" abgedriftet sein könnte.

Trotz all des technischen Aufwandes wurde Grays Freunden schnell klar, dass sie Hilfe von außen brauchen würden, um all die Bilder zu analysieren, die aufgenommen wurden. Ingenieure bei Amazon zerlegten den Datenwust daher in einzelne Kacheln, die jeweils eine Fläche von 300 mal 300 Metern Ozean abbildeten. Am 2. Februar wurden die Aufnahmen schließlich bei Amazons Webdienst Mechanical Turk hochgeladen, wo Nutzer für Kleinstbeträge kleine Aufgaben erledigen können, die sich für eine Automatisierung am Computer nur schwer eignen. Dazu gehört auch das Durchsuchen von Fotos nach Mustern, die nicht unbedingt feststehen – einem Menschen fällt dies wesentlich leichter. Mehr als 12.000 Freiwillige machten schließlich mit und durchsuchten insgesamt 560.000 Bilder nach Ansammlungen weißer Pixel, die die "Tenacious" darstellen könnten. Ein interessanter Kandidat wurde ermittelt – allerdings fanden Flugzeuge, die in das Gebiet geschickt wurden, Grays Yacht leider nicht. Seine Familie beendete die Suche schließlich am 16. Februar – das Verschwinden des Computerwissenschaftlers bleibt ein Rätsel.

Die massiv verteilte, Internet-basierte Suche nach der "Tenacious" ist ein gutes Beispiel dafür, was alles mit einer Web-Technologie möglich ist, die den Nutzer einbezieht. Auf dem Gebiet der so genannten "Human-Assisted"-Webdienste geht es zwar eher selten um Leben und Tod wie im Fall Gray, doch der Ansatz ist durchaus nützlich. Technologien wie Internet-Suchmaschinen oder Bilderfassungssysteme profitieren enorm. Im Gegensatz zum bekannten Aufspaltungs- und Zersplitterungseffekt, den das Web etwa im E-Commerce-Bereich hatte, holt es hier den Menschen zurück ins Bild. Software, so scheint es, ist nicht immer "King". Und auch Mittelsmänner können ihren Nutzen haben.

Googles erstaunlicher Erfolg, den gigantischen textbasierten Web-Dschungel zu lichten, stellte den Traum vieler IT-Forscher in den Mittelpunkt, alle digitalen Informationen indizieren, organisieren und algorithmisch verwalten zu können – allein mit Software. Sollte der Traum tatsächlich wahr werden, wird er sich wohl reichlich verspäten. In der Zwischenzeit versuchen erste Unternehmer, die Hirnleistung Tausender Internet-Benutzer für sich zu nutzen, um Aufgaben erledigen zu lassen, die der Rechner eben noch nicht oder nur schlecht beherrscht.

Amazons Mechanical Turk, benannt nach einem Automaten aus dem 18. Jahrhundert, der angeblich Schach spielen konnte, im Inneren aber einen kleinwüchsigen Spieler barg, ist bei diesem Trend ganz vorne dabei. Die Idee ist einfach: Unternehmen oder Privatpersonen, die einen Job zu erledigen haben – sei es nun die Transkription eines Podcasts oder das Korrekturlesen von Texten – stellen die Details auf einer Web-Seite bei Amazon ein (dazu bedarf es allerdings einiger technischer Grundkenntnisse). Mechanical Turk betreibt dann ein Outsourcing dieser Aufgaben (genannt "Human Intelligence Tasks", kurz HITs) an Personen im Internet, die Zeit für sie haben und einen Kleinstbetrag für ihre Komplettierung erhalten.

HITs können recht rührend sein – so bot etwa eine Familie aus Pasadena, deren Yorkshire Terrier entführt worden war, allen Interessierten 10 Cent pro Posting einer Suchmeldung – egal ob sie nun in Foren, Boards oder MySpace-Seiten hinterlassen wurde. Oder wie wäre es mit Bilderkennung: Man stelle sich eine Armee von PC-Besitzern vor, die künftig Sicherheitsvideos von Flughäfen im ganzen Land kontrolliert, um nach einem einzelnen Straftäter zu suchen. Selbst HITs zur Suche erdnaher Asteroiden in tausenden Weltraumaufnahmen sind denkbar.

Ein anderes Beispiel für die Nutzung der menschlichen Intelligenz auf automatisiertem Weg ist ChaCha, eine Suchmaschine, bei der so genannte "Guides" eingesetzt werden. Sie hat seit letztem Herbst 30.000 virtuelle Mitarbeiter geworben – Rentner, Studenten und Hausfrauen, die je nach Lust und Laune für die Seite arbeiten. Die Guides sollen die Nutzer zu den besten Ressourcen im Web führen, für die sie eine Expertise vorweisen müssen. Dafür gibts fünf bis zehn Dollar pro Suchstunde. Der aktuell noch kostenlose Dienst startet mit einem Eingabefeld, das zur traditionellen Websuche des Unternehmens führt. Ist das Ergebnis unpassend, kann der Nutzer mit einem Klick auf "Chat Live with a Guide" einen Menschen kontaktieren. Kommt die Verbindung zustande, erhält der Nutzer Textbotschaften mit den gewünschten Informationen und auch schon mal die ein oder andere Nachfrage. Der Guide präsentiert dann fünf bis zehn interessante Links zum Thema und schickt sie an den Nutzer zurück – inklusive kontextsensitiver Werbung, wie man sie auch von Google kennt. Die Ergebnisse werden gleichzeitig verwendet, um den ChaCha-Suchindex zu verbessern, der so qualitativ hochwertig wachsen soll.

Zu Dot-Com-Zeiten gab es bereits ähnliche Versuche mit menschlichen Suchhelfern – etwa Webhelp.com. Funktioniert hat das Modell damals allerdings nicht. Doch heute, in der Zeit von MySpace, YouTube, Skype und Co. scheinen die Menschen bereiter, sich mit solchen Live-Chats anzufreunden – sie verlangten sogar immer häufiger nach menschlicher Interaktion und direktem menschlichem Wissen im Web, wie ChaCha-Präsident Brad Bostic meint. "Sowohl die Technologie als auch die Kultur ändern sich. Vor ein paar Jahren war nur E-Mail der Standard-Kommunikationsweg. Heute nutzen die meisten Menschen auch Instant-Messaging und andere Dienste – und zwar nicht nur zur Informationsrecherche, sondern um sozial zu interagieren."

Im Test erweisen sich die ChaCha-Guides dann auch als durchaus freundlich und direkt, wenn sie auch nicht immer die Informationen liefern, die man wirklich braucht. Bei Spezialthemen müssen sie dann schon einmal an andere Kollegen verweisen. Noch kann man viele ihrer dargebotenen Inhalte auch selbst herausfinden, wenn man nur etwas geschickt mit Google umgehen kann.

Je mehr Erfahrung die Guides besitzen, desto besser dürften die ChaCha-Resultate in Zukunft werden – allerdings müssen auch die Werkzeuge stimmen, die ihnen zur Verfügung stehen. Bostics Standpunkt, laut dem immer mehr Nutzer sich auf das Wissen anderer User verlassen, ist aber durchaus Teil der "Social Computing"-Revolution. Angebote wie Wikipedia zeigen, dass sie funktionieren kann.

Amazon Mechanical Turk, ChaCha und andere Angebote wie Polar Rose (Bildsortierung), Prefound (eine weitere kollaborative Suchmaschine) und andere unter Zuhilfenahme von Menschen entstehende Angebote sind deshalb signifikant, weil sie ein neues ökonomisches Phänomen nutzen: Internet-Akkordarbeit. Der Mensch scheint sich bei großen, informationsintensiven Aufgaben immer noch besser anzustellen, als dies Computer können – selbst beim intelligenten Durchsuchen des Web oder der Bilderkennung bei Satellitenfotos. Einzige Voraussetzung: Der Job muss in tausende Teilschritte aufgesplittet werden können, um diese dann wiederum unter bereitwilligen "Arbeitnehmern" zu verteilen. Die neuen Online-Tools erledigen dies sehr effizient. Firmen wird zudem klar, wie leicht es ist, entsprechende Mitarbeiter zu finden – es scheint auszureichen, ihnen ein kleines Zusatzeinkommen zu verschaffen, wie man es bei ChaCha sieht (und die Jim Gray-Suche zeigt, dass auch etwas Mitgefühl hilft).

Noch ist unklar, ob solche Internet-Akkordarbeit tatsächlich ein großes Geschäft wird – und die langsam steigenden Erwartungen von Risikokapitalgebern und Aktienmärkten erfüllen kann. Aktuell setzen die Betreiber auf eine ähnliche Hoffnung, wie dies bereits ihre Dot-Com-Vorfahren taten: Dass das Netz Millionen von Nutzern zusammenbringt und die Soft- und Hardware im Internet eine Flut von Transaktionen schnell und billig abwickeln kann. "Wie macht man aus kleinen Dingen eine ganz große Sache? Indem man sein Systeme so breit zugänglich macht, dass es zahlreiche Vorgänge gleichzeitig erledigt", meint Peter Cohen, Direktor des Mechanical Turk-Projektes bei Amazon. "Wir würden uns in diesem Bereich nicht engagieren, wenn wir nicht glauben würden, dass es hier ein Geschäft gäbe."

Die Computerisierung und die sich dadurch ergebenden Produktivitätsgewinne haben eben Konsequenzen – beabsichtigte und unbeabsichtigte. Traditionelle Jobs gehen verloren, an Telefonhotlines mit Spracherkennungssystemen verbringt man kleine Ewigkeiten, bevor man zu echten Personen durchkommt. Aber das nächste Mal, wenn wir nach Hilfe im Web suchen, kommt sie vielleicht von echten Menschen. (bsc)