"Resozialisiert das Netz!"

Web-Vordenker haben die Branche auf der "Supernova"-Konferenz in San Francisco vor einem zu engstirnigen Fokus auf das "Mitmach-Internet" gewarnt. Web 2.0 sei nicht alles.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Steffan Heuer
Inhaltsverzeichnis

Die überschwänglichen Lobeshymnen auf das Web 2.0 machen selbst im Epizentrum des neuen Booms mittlerweile etwas nüchterneren Einschätzungen Platz. Theoretiker und Visionäre des "Mitmach-Internet" übten sich auf der alljährlichen "Supernova"-Konferenz der renommierten Wharton Business School in kritischen Betrachtungen zum Wechselspiel zwischen Netz, Wirtschaft und Gesellschaft.

Die dreitägige Veranstaltung in San Francisco stand diesmal unter dem Motto "Das neue Netz definieren". Viele der Diskussionsteilnehmer fassten das als Aufforderung zur Nabelschau auf – zumal sich diesmal auch nur wenige wirklich neue Start-Ups präsentierten.

Die New-York-Times-Kolumnistin Denise Caruso, die gerade ein Buch zum Thema Innovation und ihre unbeabsichtigten Folgen veröffentlicht hat, forderte ihre Zuhörer dazu auf, das Netz zu resozialisieren. Das Universum von inzwischen mehr als 80 Millionen Blogs und anderen Online-Foren ist ihrer Meinung nach kein gesundes Ökosystem mehr. Es fänden zu wenige Diskussionen zwischen Befürwortern und Gegnern bestimmter Ideen statt. Da das Netz – zumindest in den USA – auf der Annahme basiere, es unterliege keinerlei oder nur wenigen Beschränkungen, sind laut Caruso eine ganze Reihe unerwarteter Konsequenzen eingetreten, von der Spannung zwischen Urheberrechten und Datenschutz bis zur Netzneutralität und Konflikten um neu zu vergebende, drahtlose Frequenzen.

Herkömmliches Risikomanagement versucht solchen Stolpersteinen mit weit gefassten Expertenrunden, Debatten und Anhörungen zu begegnen, bevor Entscheidungen getroffen werden. "Wer Risiken so abschätzt, sorgt für bessere Entscheidungen und Investitionen", so Caruso. Dieser Interessensabgleich passiert ihrer Meinung nach jedoch nicht im Web. Firmen und andere Teilnehmer ließen sich nur ungern in die Karten schauen oder von Kontrollinstanzen hereinreden.

"Die Netzwerkkultur macht dieses Problem noch schlimmer", sagte die Web-Kritikerin, da Blogs und soziale Netze keine wirklich kontroversen Debatten einleiteten. Wer sich im Web finde, sei meist derselben Meinung – was der Lösungsfindung ungemein schade. "Das Web ist ein asoziales Medium, das wir resozialisieren müssen", forderte Caruso. Als Beispiel regte sie an, Anwendungen zu bauen, in denen sich nicht Gleichgesinnte, sondern Menschen mit Meinungsverschiedenheiten finden können.

Vor einer zu engstirnigen Interpretation des Netzes als großem Transformator warnte der IT-Theoretiker Nicholas Carr. Für ihn ist das Internet ein allgegenwärtiges, billiges Commodity-Produkt wie einst das Stromnetz geworden. Wenn jeder eine Steckdose habe, so seine These, werden Rechenleistung und Datendurchsatz zu einer austauschbaren Dienstleistung.

Während die großen Anbieter wie Google, Microsoft, Yahoo! oder Salesforce die Kraftwerke des 21. Jahrhunderts – nämlich massive Rechenzentren – hochzögen, könne sich der Rest der Wirtschaft um Innovationen und neue Anwendungen kümmern. "Wir sollten uns frei machen von der eng definierten Vorstellung von Innovation als Web 2.0", riet Carr den Unternehmern, Gründern und Financiers aus dem Silicon Valley. "Wir leiden unter einer sehr engstirnigen Art von Einfallsreichtum. Kostenlose oder durch Anzeigen finanzierte Dienste werden nicht die neue Ära definieren", warnte Carr. Dennoch waren so gut wie alle auf Supernova vertretenen "Innovatoren"-Firmen auf die üblichen Angebote im Web 2.0-Bereich beschränkt, die sich um Networking, Multimedia-Dateien, Kommunikation oder Anzeigen drehten.

Einige der Jung-Unternehmer übten sich in Selbstkritik. Alex Iskold, Gründer und CEO des Start-ups Adaptive Blue, das eine beliebte Firefox-Erweiterung zum personalisierten Surfen anbietet, warnte vor überzogenen Erwartungen für neue Suchtechnologien, die das semantische Web ermöglichen oder auf natürlicher Sprache basieren. "Suche mit natürlicher Sprache wird nicht funktionieren. Einfache Heuristik wird uns bei der Suche viel weiter bringen", so der bekannte Blog-Autor. Sein Kommentar war ein Seitenhieb auf Powerset – eine mit Spannung erwartete neue Suchmaschine aus San Francisco, deren Gründer und CEO an einer Diskussionsrunde über Maschinenintelligenz teilnahm.