Raus aus dem Kopf

Erinnerungen an Raubüberfälle, Vergewaltigungen, Unfälle können ein Leben lang quälen. Kanadische und US-Forscher haben einen Weg gefunden, der schlechte Erfahrungen leichter ertragbar macht.

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Von
  • Edda Grabar

Was würde passieren, wenn man Gedanken auslöschen könnte? Wenn man all die Erfahrungen, die einem noch nach Jahren das Leben schwer machen, auslöscht – einfach vergisst? Würde man mit einer neuen Leichtigkeit durch das Leben schweben? „Nicht vergessen“, sagt Karim Nader, „aber emotional besser bewältigen.“ Das sei schon eine große Erleichterung. Der Neurologe von der McGill-University in Quebec, Kanada, hat seine Überzeugung in die Tat umgesetzt. In der Online-Ausgabe des Journal of Psychiatric Research beschreibt er gemeinsam mit Roger Pitman, Leitender Psychiater am Massachusetts General Hospital in Boston, und weiteren Kollegen, dass das bekannte Medikament Propanolol ganz selektiv Erinnerungen an schreckliche Erlebnisse für Patienten leichter ertragbar macht.

Das Mittel hat als erster Betablocker gegen Bluthochdruck und andere Herzkreislauferkrankungen Karriere gemacht. Es blockiert die so genannten adrenergen Rezeptoren – also die Schalter, die gewöhnlich durch das Aufmerksamkeitshormon Adrenalin umgelegt werden. So senkt es den Herzschlag und auch die Atemfrequenz, zeigt aber auch die Nebenwirkung, die allen Betablockern gemein ist: Sie wirken dämpfend – und einige, darunter auch Propranolol, hinterlassen kleine Gedächtnislücken.

Die Erkenntnis nahmen einige Forscher – auch Naders ehemaliger Chef und einer der führenden Gedächtnisforscher Joseph LeDoux vom Center for Neural Science (CNS) an der New York University – zum Anlass, die Wirkung von Propranolol an Ratten zu testen. Ihre Erkenntnis machte sie berühmt. „LeDoux war der erste, der experimentell zeigen konnte, dass man ein Gedächtnis wieder auffrischen muss, um es zu verändern oder löschen zu können“, bestätigt Carsten Wotjak, Neurowissenschaftler am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. Das ist noch nicht lange her: Erst 2002 gelang LeDoux der Nachweis.

Dazu setzte er Ratten einem Ton aus. Unmittelbar danach ließ er sie einen leichten, aber unangenehmen elektrischen Impuls spüren. Innerhalb kürzester Zeit lernten die Ratten, den Ton mit der unerfreulichen Erfahrung zu assoziieren. Erklang er, sträubten sich ihnen die Fellhaare, stieg die Pulsfrequenz. Bekamen die Ratten hingegen unmittelbar im Anschluss an das Geräusch Propanolol, verschwanden die Furchtreaktionen auf spätere Tonpräsentationen.

Die Frage, die viele Wissenschaftler beschäftigte, war, ob auch über Jahre bestehende Traumata damit behandelt werden können. „Als Trauma beschreibt man Angst und Schrecken einflößende Erlebnisse, die über Jahre völlig unvermittelt oder aufgrund bestimmter Reize wieder hervorgerufen werden können“, erläutert Wotjak. Unfälle, die sich immer wieder ins Gedächtnis bohren, können etwa durch den Geruch verbrannten Gummis oder Fleischs aus dem Nichts Menschen in Panik versetzen.

Auch die 19 Patienten von Karim Nader hatten Schlimmes durchlebt: Sie alle waren Unfall- oder Vergewaltigungsopfer. Zehn Tage lang verabreichten die Ärzte und Wissenschaftler ihnen entweder Propranolol oder ein Placebo, während sie aufgefordert wurden, von ihrem traumatischen Erlebnis zu erzählen. Nach einer Woche kontrollierten sie dann Stressfaktoren wie Herzschlag, Hautwiderstand und Atemfrequenz und stellten fest, dass sich die Symptome der Patienten, die den Betablocker erhielten, deutlich verbessert hatten.

Traumatische Erinnerungen sind über drei Regionen im Gehirn miteinander verknüpft. Während der Hippocampus das Erlebte speichert, somit Sitz des autobiografischen Gedächtnisses ist, speichert die Amygdala die emotionale Bewertung. Der Stirnlappen hingegen setzt das Geschehen in seinen sozialen Kontext – dort, so sagt man, sitzen die „Soft Skills“, die soziale Intelligenz. „Propranolol dämpft lediglich das emotionale Gedächtnis, der Bereich, der für die Wahrnehmung zuständig ist, bleibt intakt. Die Patienten können sich weiter an jedes Detail des Geschehens erinnern“, sagt Nader gegenüber der britischen Zeitung Daily Telegraph.

„Man nimmt heute an, dass absichtlich oder wiederholt hervorgerufene Erinnerungen die betroffene Person erneut in eine Art labile Phase schicken“, erklärt Wotjak, etwa um weitere und ergänzende Informationen aufzunehmen und anschließend zu verfestigen. Greift man zu diesem Zeitpunkt therapeutisch ein, sollte es das erneute Auftreten der Angstreaktion verhindern.

Dass das Forscherteam Propranolol wählte, wundert Wotjak nicht. Sowohl israelische Armeeärzte als auch ihre US-Kollegen beobachteten, dass „Verwundete, die auf der Intensivstation mit Propranolol behandelt wurden, besser mit dem Unfall zurecht kamen, als unbehandelte Patienten“, erzählt er. Betablocker besetzen auch im Gehirn Bindungsstellen, in diesem Fall die für das dem Adrenalin sehr ähnliche Noradrenalin, das „ganz essenziell für die Abspeicherung von negativen Erinnerungen ist“, so Wotjak.

In der Zelle aktiviert das Noradrenalin eine Kaskade, die letztlich den Gedächtnisfaktor CREB dazu veranlasst, Gene zu aktivieren, die die Nervenverschaltungen im Gehirn stärken. „Ähnlich agieren auch andere Substanzen“, sagt Joseph LeDoux vom New Yorker CNS. Er untersucht derzeit die Wirkung von U0126, einem Hemmstoff von Promega, der ebenfalls den CREB-Weg beeinflusst.

Sollte aus Naders und LeDoux' Versuchsergebnissen eines Tages eine Therapie hervorgehen, könnte das einem Szenario nahekommen, das der Film „Vergiss mein nicht“ mit Kate Winslet und Jim Carrey 2004 zeichnete. Aus unglücklicher Liebe lassen sich verschiedene Personen gezielt die Erinnerung an andere auslöschen. Der Haken: Ihre Probleme lösen sie damit nicht - sie verlieben sich trotz des gelöschten Liebeskummers erneut in dieselben Personen.

Das Paper:
A. Brunet et al., Effect of post-retrieval propranolol on psychophysiologic responding during subsequent script-driven traumatic imagery in post-traumatic stress disorder. Journal of Psychiatric Research, online 21. Juni 2007
(nbo)