Die Wurzeln der Wut

Forscher untersuchen, welche Veränderungen im Gehirn zu besonderer Gewaltneigung führen können – und wie sich präventive Behandlungsmethoden entwickeln lassen.

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Von
  • Emily Singer

Jeder von uns kennt Menschen, die aggressiver sind als andere – den Kneipenbesucher, der sich mit wirklich jedem anlegt, oder den Taxifahrer, der bei jeder roten Ampel zu explodieren scheint. Nicht immer bewegen sich diese Personen im Rahmen der normalen menschlichen Bandbreite. Forscher untersuchen derzeit, welche genauen Veränderungen im Gehirn dafür verantwortlich sein könnten, dass manche Menschen gewalttätiger und aggressiver sind als andere. Die Ergebnisse dieser Studien könnten dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche mit Verhaltensproblemen leichter diagnostiziert und genauer behandelt werden können – und so womöglich verhindert wird, dass es überhaupt zu Gewaltausbrüchen kommt.

Dabei entsteht allerdings auch ein schwerwiegendes ethisches Problem: Wenn man eines Tages aus dem Gehirn herauslesen kann, ob jemand das Risiko in sich trägt, gewalttätig zu werden, könnte dies auch zu einer Stigmatisierung junger Menschen führen, bevor sie überhaupt straffällig geworden sind. Die andere Seite der Medaille: Haben Gewaltverbrechen tatsächlich ihren Hintergrund in körperlichen Anomalien, könnte dies auch als Verteidigungsstrategie vorgebracht werden, die Verantwortlichkeiten vom einzelnen Menschen weglenkt.

"Wir werden letztlich an einen Punkt kommen, an dem wir Kinder so testen können, dass wir mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit Aussagen über ihr Potenzial zu Gewaltverbrechen treffen", meint Adrian Raine, Neurowissenschaftler an der University of Pennsylvania, der die neurologischen Wurzeln von Gewalttätigkeit untersucht. "Tun wir dann etwas, um einzugreifen? Ich denke, dass wir uns heute ganz genau über diese Dinge Gedanken machen müssen."

In einer Studie, die in der vergangenen Woche bei einer Konferenz der amerikanischen "Society for Neuroscience" im kalifornischen San Diego vorgelegt wurde, verwendeten Forscher die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), um die Gehirnaktivitäten einer kleinen Gruppe männlicher Jugendlicher zu untersuchen, die als "reaktiv aggressiv" galten – also ständig gegenüber wahrgenommene Bedrohungen überreagierten. "Diese Kids reagieren stets überdeutlich: Sie schlagen jemanden oder treten gegen eine Tür. Doch im Nachhinein bereuen sie es", erläutert Guido Frank, Forscher und Arzt an der University of California in San Diego, der die Studie leitete. "In diesem Moment können sie sich selbst nicht unter Kontrolle halten."

Führte man diesen Jungen Bilder bedrohlicher Gesichert vor, zeigte sich im Vergleich zu einer Kontrollgruppe eine höhere Aktivität im so genannten Mandelkern (Amygdala), einem Teil des Gehirns, der mit Ängsten zu tun hat. Gleichzeitig wurde eine geringere Aktivität im präfrontalen Cortex festgestellt, dem Bereich des Gehirns, der mit logischem Denken und der Entscheidungsfindung zu tun hat. Diese Ergebnisse scheinen eine neurobiologische Erklärung für das Verhalten der Problemkinder zu liefern: Sie fühlen Ängste stärker, wenn sie auf wütende Gesichter schauen – und das spiegelt sich wiederum in einem überaktivierten Mandelkern wieder. Gleichzeitig können sie ihre Aktionen weniger leicht kontrollieren, weil ihr präfrontaler Cortex langsamer arbeitet. "Sie denken zu diesem Zeitpunkt wohl einfach nicht über die Konsequenzen nach", erklärt Frank.

Diese Ergebnisse folgen älteren und neueren Studien, die den präfrontalen Cortex mit Aggressivität und Gewalttätigkeit in Verbindung bringen. In Studien mit Mördern und anderen Personen mit antisozialem Verhalten fanden Raine und seine Kollegen heraus, dass deren präfrontaler Cortex kleiner war als der der Kontrollgruppe. Eine Metaanalyse von 47 verschiedenen Studien, bei denen das Gehirn von Erwachsenen mit bildgebenden Verfahren untersucht wurde, bestätigte diese Erkenntnis. Die Metaanalyse wurde ebenfalls auf der Konferenz vorgestellt. Demnach hatten Menschen mit antisozialem Verhalten sowohl strukturelle als auch funktionale Einschränkungen in diesem Teil des Gehirns – insbesondere bei Personen, die in der Vergangenheit gewalttätig waren. Der präfrontale Cortex war jeweils sowohl kleiner als auch weniger aktiv.

Die Untersuchung macht Wissenschaftlern Hoffnung – sorgt aber auch für Stirnrunzeln. Bildgebende Verfahren können nur das Risiko mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Die Nutzung dieser Daten ist daher umstritten. "Je mehr wir die Neurobiologie von Gewalttätigkeiten und Aggression verstehen, desto mehr muss uns auch klar werden, dass diese Faktoren nicht deterministisch sind", sagt Craig Ferris, ein Neurowissenschaftler an der Northeastern University, der den Bereich untersucht. Der Mensch sei "nicht Sklave seiner Biologie".

Ferris befürchtet, dass die Suche nach neurobiologischen Anzeichen von Gewalttätigkeit bei Kindern ohne Verhaltensprobleme diese stigmatisieren könnte. "Jedes Screening bei den Kids wäre eine Katastrophe", meint er. Stattdessen müsse Kindern geholfen werden, die bereits erste Anzeichen von Problemen zeigten: "Wir sollten diese Werkzeuge dazu nutzen, bei der Diagnose und Behandlung dieser Erkrankungen zu helfen."

Noch ist unklar, wie diese Gehirn-Abnormalitäten überhaupt entstehen. Es gibt Studien, die eine starke genetische Komponente bei der Entwicklung der Größe des präfrontalen Cortex sehen. Doch auch Misshandlung im Kleinkindes- und Kindesalter könnten dazu beitragen. Das so genannte "Schüttel-Baby-Syndrom", bei dem Eltern ihr Kleinkind misshandeln, bewirkt beispielsweise Veränderungen vor allem im orbital-präfrontalen Cortex, dem Bereich, der in Raines Studie eine wichtige Rolle spielt.

Doch andere Untersuchungen bei Tieren und Menschen zeigen, dass auch Umweltbedingungen einen starken Einfluss auf die endgültige Ausprägung des Gehirns haben. Wird ein Kind von seiner Mutter oder einer anderen Person stark unterstützt, sinkt das Risiko für Gewalttätigkeiten auch bei Menschen, die entsprechende Anlagen haben. Stress und Misshandlung erhöhen es jedoch. Frank hofft, dass seine Erkenntnisse künftig dabei helfen können, aggressive Jugendliche zu behandeln. Bildgebende Verfahren zur Überwachung des Gehirns sollten aber immer nur in Ergänzung mit einer Therapie durchgeführt werden. "Ich glaube sehr daran, dass wir Biologie und Verhalten verändern können", meint Frank, der auch Psychotherapeut ist. (bsc)