"Die reale Welt ist der Kunde"

Irving Wladawsky-Berger ist bei IBM verantwortlich für die groß angelegte Initiative "E-Business on Demand" und gilt als einer der einflussreichsten Strategen.

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Von
  • Sascha Mattke
  • Thomas Vasek

Irving Wladawsky-Berger ist bei IBM verantwortlich für die groß angelegte Initiative "E-Business on Demand" und gilt als einer der einflussreichsten Strategen der IT-Branche. Im Rahmen seiner Tätigkeit ist der Physiker auch federführend bei Big Blues Engagement für offene Standards und OpenSource-Software sowie für das Autonomic-Computing und das Grid-Projekt. Der gebürtige Kubaner begann seine Karriere im Jahr 1970 am Thomas J. Watson Research Center, wo er Technologietransfer-Projekte betreute. Seit 1985 widmet er sich in der Produktentwicklung der Aufgabe, neue Technologien zur Marktreife zu bringen.

Technology Review: Stehen wir vor dem Ende des goldenen Zeitalters der Informationstechnologie - oder erleben wir erst den Anfang?

Irving Wladawsky-Berger: In den letzten drei bis vier Jahren hat sich das Wachstum der IT-Wirtschaft verlangsamt. Doch der technologische Fortschritt ging weiter. Wir erleben solche Zyklen immer wieder: Neue Technologien wachsen solange, bis sie einen Sättigungspunkt erreichen, dann kippt die Entwicklung um - und es kommt wieder etwas Neues. Ich glaube, dass die meisten Segnungen der Technologie noch vor uns liegen. Ich würde mir zwar wünschen, dass die Geschäfte besser liefen. Doch strategisch gesehen sind die vielen technologischen Fortschritte eine sehr gute Nachricht. Sie bedeuten, dass der IT-Branche eine sehr gesunde Zukunft bevorsteht.

Technology Review: Sie wurden mit der Aussage zitiert, die IT-Branche sei in eine "post-technologische Phase" eingetreten. Verliert Technologie an Bedeutung?

Wladawsky-Berger: Irgendwann ist die Technologie selbst für die meisten Menschen nicht mehr interessant. In den Vordergrund rückt dann die Frage: "Was können wir mit der Technologie anfangen - was ist ihr Wert?" Wir befinden uns in einer Übergangsphase: Für viele ist Informationstechnologie immer noch so neu und so kompliziert, dass sie die Menschen viel zu sehr beschäftigt. In Zukunft wird IT viel besser und leistungsfähiger, preisgünstiger und weniger kompliziert werden, weil sie sich mehr selbst steuern wird. Man wird sich dann wirklich auf die Anwendungen konzentrieren können, auf den Einsatz der Informationstechnologie in der Geschäftswelt, in der Medizin, auf allen möglichen Gebieten.

Technology Review: Seit vier Jahrzehnten klammert sich die Branche an Moores Gesetz - also an das Dogma, dass sich die Leistungsfähigkeit von Chips alle 18 Monate verdoppelt. Bleibt Moores Gesetz Haupttreiber der technologischen Entwicklung?

Wladawsky-Berger: Ja, zumindest einer davon. Irgendeine Version von Moores Law wird weiter Bestand haben. Der zweite Hauptmotor ist die Weiterentwicklung von Standards. Das Internet hat uns gezeigt, um wie viel besser man Systeme nutzen kann, wenn sie miteinander verbunden sind, und dazu braucht man Standards. Denken Sie an TCP/IP, an Web-Standards, XML oder die jetzigen Grid Standards. Die dritte Hauptkraft ist das Internet selbst - die Tatsache, dass diese Technologien und Standards zu einer unglaublichen weltweiten Infrastruktur führen. Das wird erheblichen Einfluss auf alle Unternehmen und auf die ganze Gesellschaft haben.

Technology Review: Trotzdem: Hardware wird immer mehr zum austauschbaren Gut. Wie kann sich ein Unternehmen wie IBM da noch differenzieren?

Wladawsky-Berger: Nehmen Sie das Beispiel Speichermedien: Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es für uns kein gutes Geschäft mehr ist, Festplattenlaufwerke zu bauen - obwohl wir die Festplatte erfunden haben. Festplatten wurden zu sehr zur commodity, also lohnte es sich für uns nicht mehr, Laufwerke zu bauen. Das Bauen von Speichersystemen dagegen ist ein gutes Geschäft, weil der Schlüssel dazu die Frage ist, wie man ein Speichersystem virtualisiert, sodass man auf Daten zugreifen kann, egal wo sie sich befinden. Software wird immer wichtiger. Doch der Bereich, der am schnellsten wächst, sind die Dienstleistungen. Die Kunden sagen nämlich: "Alles schön und gut, aber ich möchte kein Experte für Teraflops oder das Ausführen verteilter Middleware werden." Die Kunden sagen: "Ich will eine Bank führen oder ein Krankenhaus oder die deutsche Regierung, aber ich will kein Sklave der Technik werden."

Technology Review: Ist IBM überhaupt noch ein IT-Unternehmen?

Wladawsky-Berger: Wir sind immer noch ein IT-Unternehmen. Doch der Wert für den Kunden ergibt sich zunehmend weniger aus dem Bau der Komponenten und immer mehr aus der Anwendung der Technologie zur Lösung von Problemen. Die wirklich erfolgreichen IT-Firmen werden jene sein, die ihren Kunden bei der Lösung ihrer Probleme helfen, ob das Probleme der Gesundheitsfürsorge oder der Verwaltung sind. Wir wollen das Know-how zu unserem Hauptprodukt machen.

Technology Review: Gefährdet die Konzentration von IBM auf Consulting nicht die innovative Kraft des Unternehmens?

Wladawsky-Berger: Im Gegenteil. Die Consulting-Ausrichtung ist sogar ein Innovationsmotor. Man sollte sich von dem Problem leiten lassen, das man lösen will. Wenn man also neue Probleme bei der Gesundheitsfürsorge oder der Optimierung der Versorgungskette hat, dann sagen einem diese Probleme schon selber, was für Software, Datenbanken oder sonstige Systeme gebaut werden müssten. So treibt man die Innovation voran.

Technology Review: Sie schicken regelmäßig Forscher aus der Research Division von IBM direkt zum Kunden…

Wladawsky-Berger: Ganz genau. Das ist so, als ob sich ein Physiker experimenteller Arbeit zuwendet, um herauszufinden, welche Theorien man eigentlich auf der Basis der realen Welt ersinnen müsste. Die reale Welt ist der Kunde.

Technology Review: Sie sprachen auch von der Bedeutung offener Standards. Wie ist es denn dazu gekommen, dass IBM diese neue Offenheit angenommen hat? Schließlich hat das Unternehmen eine sehr lange Tradition des proprietären Denkens.

Wladawsky-Berger: Einer der Hauptaspekte der Informationstechnologie besteht darin, eine offene Informationsinfrastruktur zu entwickeln, und das können Sie nur durch Standards. Und es müssen offene Standards sein. Wenn "Standardisierung" bedeutet, dass eine Firma alles diktiert, dann sind das keine offenen Standards. Nur durch Standards kann man Systeme verbinden und integrieren, die von beliebigen anderen Firmen produziert wurden. Wenn man zweitens noch bedenkt, dass viele Fortschritte aus einer Gemeinschaft der Fachleute entstehen, dann ist man gezwungen, Technologien wie Linux zu unterstützen, die von einer solchen Gemeinschaft geschaffen werden. Es geht dabei nicht um die Abschaffung von proprietären Technologien - man baut auf diesen offenen Standards auf, und es gibt immer Möglichkeiten, seinen eigenen Wert daraus zu schöpfen.

Technology Review: Damit sind wir bei Ihrer Linux-Strategie. Wie sehen Sie die Zukunft von Linux?

Wladawsky-Berger: Ich glaube, dass Linux weiterhin viel Erfolg haben wird.

Technology Review: Auch bei Desktop-Computern?

Wladawsky-Berger: Das weniger. Aber zurzeit ist Linux bei den neuen "pervasive devices" erfolgreich, in Autos, bei Geräten mit integrierten Mikroprozessoren. Die große Mehrzahl der Endgeräte werden in der Zukunft solche "embedded"-Anwendungen sein und keine Desktop-Computer. Der Desktop ist ein Überbleibsel von früher.

Technology Review: Ist der PC tot? Und wenn: Was kommt danach?

Wladawsky-Berger: Der PC ist nicht tot, sondern ein Überbleibsel. Aber auch Mainframes sind ein Überbleibsel von früher, und wir verdienen viel Geld damit. Wenn man ein Überbleibsel ist, ist man deshalb noch nicht tot. (lacht) Ich bin der festen Überzeugung, dass die klassischen Desktop-Computer eine ähnliche Entwicklung durchlaufen werden wie die Mainframes. Wir werden ein langsames Wachstum haben, aber ein langsames Wachstum im Vergleich mit allen anderen Geräten. Sensoren sind jetzt überall. Was in der Welt der pervasive devices abläuft, in der Telematik, in Autos, in Organizern - diese Explosion ist spektakulär. Linux ist in diesen Bereichen sehr populär. Das ist nicht überraschend - neue Technologien werden meist in neuen Bereichen erfolgreich.

Technology Review: Wie verdient IBM Geld mit Linux?

Wladawsky-Berger: Auf die gleiche Weise, wie IBM mit dem Internet-Protokoll TCP/IP Geld verdient. Wir verdienen nichts an den IP-Stacks, aber man kann mit Hilfe des Internet Lösungen bauen, die man vorher nicht realisieren konnte. Man kassiert Geld für die Gesamtlösung. Mit Hilfe von Linux wird man in Zukunft alle möglichen Produkte auf viel einfachere Art und Weise bauen können. Durch Linux selber verdient man nicht das Geld, aber Linux beschleunigt die Innovation, und man kann versuchen, alle möglichen neuen Probleme damit zu lösen. So verdient man dann sein Geld, durch diese Beschleunigung der Innovation.

Technology Review: Sie setzen voll auf Linux, aber seine weitere Verbreitung wird durch eine Klage des Software-Unternehmens SCO gefährdet: Es behauptet, IBM habe Teile von seiner Software genommen und unrechtmäßig in Linux integriert. Stimmt das?

Wladawsky-Berger: Wir glauben absolut, dass wir das nicht getan haben. Nein. Wir glauben, dass diese Behauptung in keiner Weise zutrifft.

Technology Review: Trotzdem hat SCO für viel Unsicherheit unter Anwendern gesorgt. Gefährdet das die Linux-Strategie von IBM?

Wladawsky-Berger: Das glaube ich nicht. Irgendwann wird dieses Problem gelöst werden. Wenn Sie sich die Geschichte jeder x-beliebigen Technologie anschauen, dann sehen Sie, dass immer wieder prozessiert wird. Ich weiß nicht, ob Sie sich daran erinnern, wie die Prozesse um die grafische Benutzeroberfläche geführt wurden. Wir sind uns sehr sicher, dass wir Recht haben, und wir kämpfen verbissen dagegen an. Es wird eine Lösung geben. Ich glaube, dass Linux durch den Streit auf keine Weise behindert wird.

Technology Review: Haben Sie für den Fall, dass es doch anders kommt, eine alternative Strategie in der Hinterhand?

Wladawsky-Berger: Wir haben wirklich keine Notwendigkeit dafür gesehen. Wir sind sehr zuversichtlich, dass das Problem auf die eine oder andere Weise gelöst wird.

Technology Review: Eine der zentralen Technologie-Visionen von IBM ist Autonomous Computing - Computer-Systeme, die sich weit gehend selbst verwalten, überwachen und reparieren. Aber wenn das funktioniert, braucht niemand mehr die Berater von IBM, oder?

Wladawsky-Berger: (lacht) Doch - wenn die Infrastruktur sich in hohem Maß selbst steuert, kann man noch größere Probleme angehen. Sie brauchen erst dann keine Consultants mehr, wenn Sie keine Probleme mehr zum Lösen haben. Sie bauen immer auf dem auf, was bereits existiert, und wenn man auf der einen Ebene keine Probleme mehr lösen muss, dann baut man darauf auf und löst Probleme auf der nachfolgenden Ebene.

Technology Review: Sehen Sie schon in den Grundzügen, was das große Thema nach Autonomous Computing sein könnte?

Wladawsky-Berger: Das Internet wird ständig besser, und wir werden ständig besser darin, Prozesse zu integrieren und eine viel kompliziertere digitale Ökonomie aufzubauen. Ich glaube, dass das eine sehr große Sache ist.

Technology Review: Wird das "next big thing" also überhaupt kein "Ding" mehr sein - im Sinne eines materiellen Gegenstandes?

Wladawsky-Berger: Nein, das glaube ich nicht. Das "next big thing" wird nicht die Technologie selbst sein. Entscheidend ist die Anwendung von Technologie von der Stange, um die Wirtschaft produktiver zu machen. Ich glaube, dass das die nächste große Hürde ist. Man braucht Know-how zur Lösung der anstehenden Probleme. Worauf es ankommt, ist, Technologie viel tiefer ins Geschäft zu integrieren.

Technology Review: Das klingt so abstrakt. Lässt sich nicht ein neuer durchschlagender Erfolg absehen, der so einfach zu verstehen ist wie Computer oder Mobiltelefone?

Wladawsky-Berger: Wenn wir in der Lage sind, durch die Anwendungen der Technologie die Gesundheitsfürsorge, die Bildung und so weiter erheblich zu verbessern, dann werden wir auch in der Lage sein, diese Anwendungen besser zu erklären. Vergessen Sie nicht, dass wir es zurzeit nur deshalb nicht können, weil wir viel zu sehr mitten drin stecken. Es würde mich aber nicht wundern, wenn es in zehn Jahren einige sehr konkrete Anwendungsbereiche gibt, vergleichbar mit E-Mail und World Wide Web, die allgegenwärtiger sind und von denen die Menschen sagen: "Das war also das next big thing." Wir wissen das jetzt noch nicht, aber im Nachhinein werden wir es wissen.

Technology Review: Glauben Sie, dass die Begeisterung für drahtlose Vernetzung mit WLAN übertrieben ist? Wladawsky-Berger: Nein, ich glaube, dass Wi-Fi eine sehr große Sache ist. Es ist wie mit Geldautomaten. Ich weiß nicht, ob Telefone im Zimmer für Hotels ein gutes Geschäft sind, aber wenn sie keine hätten, dann kämen wahrscheinlich keine Gäste. Oder Jugendherbergen: Es mag sein, dass man dort zur Toilette laufen muss, aber man wird wahrscheinlich Wi-Fi in jedem Zimmer haben.

Technology Review: Welchen technologischen Durchbruch wollen Sie persönlich noch erleben?

Wladawsky-Berger: Anwendungen von Technologie im Bereich des Gesundheitswesens halte ich für unglaublich wichtig. Ich hoffe sehr, dass ich dort noch Fortschritte erleben werde, damit ich womöglich noch einige Jahrzehnte länger leben kann. Einige der spannendsten Dinge passieren für mich im Bereich der Biowissenschaften und der Biologie. Ich vermute, dass es dank der Informationstechnik mit unglaublich leistungsstarken Computern zu einer ganzen Reihe von Durchbrüchen in der Medizin kommen wird - bei Alzheimer und bei allen möglichen psychischen Krankheiten, die wir bis jetzt überhaupt nicht verstehen. (sma)