Zynische Arithmetik

Kuhwiesen und kahle Felder bis zum Horizont. Nur die Stämme eines Nadelwäldchens strecken sich ins Vertikale.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Stefan Schmitt

Kuhwiesen und kahle Felder bis zum Horizont. Nur die Stämme eines Nadelwäldchens strecken sich ins Vertikale. Ein Jagdflugzeug zieht knapp darüber vorbei, hinterlässt eine rußige Abgasfahne am unteren Rand des klaren Herbsthimmels. Viel weiter oben zeichnet eine Linienmaschine auf dem Weg nach Westen Kondensstreifen in die Luft.

Der kleine Wald am ostfriesischen Ende der Welt bedarf schon seiner Sandsack-bewehrten Stellungen, um zu zeigen, dass sich in ihm etwas Wichtiges verbirgt. Genauer gesagt, darunter: Im Keller eines einfachen einstöckigen Hauses öffnet sich ein langer Betonflur, der um mit Spiegeln besetzte Ecken führt, vorbei an dicken Stahltüren, atombombensicher.

"Das heißt, bis zu einem gewissen Grad natürlich", sagt Jörg Dronia, Kommandeur der Radarführungsabteilung 11. Denn auch auf ein Wort, das auf "sicher" endet, sollte man sich nicht blind verlassen. An einer Querstrebe unter der niedrigen Decke hat jemand den Spruch eingerahmt: "For some must watch that most can sleep" - weil einige wachen müssen, damit die meisten schlafen können.

Der Bunker stammt aus der Nachkriegszeit, 1966 übernahm ihn die Bundeswehr von den Briten. Kalter-Krieg-Atmosphäre, im Pathos des Sprüchleins über Dronias Kopf schwingt mit, dass sowjetische Horden jederzeit über die kleine Bundesrepublik herfallen könnten - damals. Heute herrschen weniger klare Vorstellungen.

In dem hermetisch abriegelbaren Bunker beobachten Radarspezialisten das Gewusel am Himmel über Deutschland. Der entlegene Standort Brockzetel beherbergt ein "Control and Reporting Center" (CRC). Vor modernen Flachbildschirmen, älteren Röhrenmonito-ren und Display-Antiquitäten verfolgen Soldaten in Luftwaffen-Blau oder Flecktarn mehrere Datenströme gleichzeitig: Daten der zivilen Flugsicherung, von Awacs-Aufklärungsflugzeugen und von der eigens dafür ausgerüsteten Fregatte 124. Und wie die anderen CRCs in der ganzen Republik ist Brockzetel über ein Quasi-ISDN-Netz der Bundeswehr an alle Radarantennen angeschlossen, die die Luftwaffe im Land verteilt hat.

Eine Art Radar-Intranet, das ein "Luftlagebild" liefert. "Am Himmel über Deutschland können Sie leicht bis zu 1200 Flugbewegungen gleichzeitig haben", sagt Dronia. Da den Überblick zu behalten ist nicht leichter geworden, seit das klare Feindbild fremder Bomber aus dem Osten weggefallen ist - andererseits aber praktisch jedes Zivilflugzeug zur Terrorwaffe werden könnte, zum "Renegade", dem Abtrünnigen. Wie leicht könnte sich unter den blinkenden Pünktchen auf dem Monitor eines verstecken, das statt einer Ladung Pauschaltouristen für Tegel eine Bombe für den Reichstag mitführt - oder sich selbst zu einer machen möchte?

Die zivile Flugsicherung wäre dann hilflos. "Die sind mit ihrem Sekundärradar auf kooperatives Verhalten der Piloten angewiesen", sagt Dronia. In jedem Cockpit gibt es einen Transponder, ein kleines Gerät, in dem man einen Zahlencode einstellen kann. Wird das Flugzeug von einem Radarstrahl getroffen, antwortet der Transponder mit dieser Kennung.

Wenn keine Antwort kommt, übernehmen die Männer im Bunker: Ihr primärer Radar beschränkt sich darauf, die passive Reflexion des Flugzeugs auszuwerten. Position, Höhe, Kurs und Geschwindigkeit - solche Angaben lassen sich wie in einer Trigonometrie-Übung errechnen. An Stärke und Aussehen der Reflexion lässt sich unterscheiden, ob ein kleiner Segelflieger oder ein großer Jumbo-Jet aus der Reihe tanzt.

Der Wunsch der Radarspäher ist es, anhand der empfangenen Radar-Signatur automatisch den Typ eines Fliegers zu erkennen. "Eigentlich eher eine mathematische Frage, und die sind ja heutzutage kein Problem mehr", deutet ein Insider an. Wie weit genau die Entwicklung schon ist? Geheimnis. Genauso wie die Sache mit der Lücke: 400 bis 450 Kilometer weit kann ein Radar sehen. Alle Nato-Staaten tauschen in der integrierten Luftverteidigung ihre Daten aus - weit vor der deutschen Grenze hinterlässt ein verdächtiges Flugzeug also schon eine Blinkspur auf dem CRC-Bildschirm.

Um gegen Störungen durch atmosphärische und kosmische Unwetter oder durch Anti-Radar-Elektronik gewappnet zu sein, hat die Luftwaffe großflächig unterschiedliche Radarsysteme aufgestellt. Dronia formuliert vorsichtig: "Wir sollten in der Lage sein, über Deutschland alle Luftfahrzeuge aufzuspüren." Andererseits ist ja von den amerikanischen "Stealth"-Bombern bekannt, dass sie keine Spur auf dem Radar hinterlassen. Und Rüstungskonstrukteure drücken die Tieffluggrenze immer weiter nach unten: Der Tornado-Kampfbomber etwa verfügt über eine spezielle Elektronik, die ihn automatisch nur wenige Meter hoch über Wipfeln oder Hügeln herjagen lässt - und damit, so das Kalkül von einst, unter dem Sowjet-Radar hindurch. Wie tief für die Luftsicherung der Nato zu tief wäre, dazu schweigen die Militärs.

Wahrscheinlicher sind derzeit Überraschungsangriffe mit Zivilgerät. 265 Kilometer südwestlich von Brockzetel, in Kalkar am Niederrhein, starrt Wolfgang Weber misstrauisch auf das Luftlagebild, eine Projektion der Positionen und Routen aller Flugzeuge auf eine Deutschlandkarte. Der Oberstleutnant, früher selbst in Brockzetel am Radarschirm, ist "German Duty Controller" im "Nationalen Lage- und Führungszentrum Sicherheit im Luftraum" (NLFZ), das erst vor wenigen Monaten in Betrieb ging.

Hier laufen im Renegade-Fall alle Strippen zusammen: Zwölf Telefone stehen auf Webers Schreibtisch. Das hellgraue in der Mitte ist Gesprächen mit dem Luftwaffen-Inspekteur oder dem Verteidigungsminister vorbehalten. Der müsste den Befehl geben, eine entführte Passagiermaschine abzuschießen, bevor sie in ein Hochhaus oder Kernkraftwerk fliegen könnte. "Wenn es eine Einrichtung wie diese am 11. September in Amerika gegeben hätte", sagt Weber, "dann wäre das erste Flugzeug wohl trotzdem eingeschlagen. Einfach weil das so unvorstellbar war. Aber das zweite hätte man vielleicht abfangen können."

Wenn ein Flugzeug von der vorgegebenen Route abweicht, eine falsche Kennung oder das geheime Alarmzeichen für "Entführung" sendet oder den Funkverkehr vermeidet, dann erfährt Weber sofort davon. Am anderen Ende des Raumes sitzen ein Vertreter des Verkehrsministeriums und zwei Grenzschützer, Angehörige des Lagezentrums für Innere Sicherheit im Berliner Innenministerium. Erkenntnisse von Länderpolizei, Bundeskriminalamt und Geheimdienst laufen dort ein. Der Ministeriendreiklang soll im Renegade-Fall Kompetenzgerangel vorbeugen. Dazu ist keine Zeit in einem Land, das von jedem handelsüblichen Düsenflugzeug in einer Stunde überquert werden kann.

In einer Ziegelbaracke mit Flachdach starren vier Soldaten in Piloten-Overalls gelangweilt auf den Breitbildfernseher in der einen Ecke ihres Ruheraumes - nur um von einer Alarmglocke unterbrochen zu werden. Sie rasselt wie ein alter mechanischer Wecker, nur viel lauter.

Sofort schnellen die vier in die Höhe. Im Flur hängen Jacke, Schwimmweste und Helm an der Wand. Im Laufschritt ins Freie. Marc Hohmann und Simon Leibold spurten nach links, auf einen der beiden Hangars zu, die wie überdimensionierte Schildkrötenpanzer die spartanische Bereitschaftsbaracke umrahmen. Mit aufgeklappter Einstiegsluke und bereitstehender Einstiegsleiter wartet der Phantom-Abfangjäger auf seinen Piloten. Während Hohmann und Leibold ins Cockpit klettern und ihre Helme aufsetzen, entfernen zwei herbeigeeilte Techniker das dicke Verbindungskabel von der Unterseite des Jägers und schleppen ein Anlassergerät heran, um die beiden Triebwerke zu zünden. Auf sich allein gestellt wäre Pilot Hohmann hilflos wie ein Autofahrer ohne Schlüssel.

Das graue Jagdflugzeug rollt ins Freie und an einem Gittertor vorbei: Das ganze Areal ist durch eine hohe Umzäunung vom Rest des Flughafens im ostfriesischen Wittmund abgetrennt. Nichts soll die Mannschaften der "Alarmrotte" ablenken oder aufhalten. Noch einmal stoppen, damit ein Techniker Aufsatzkappen mit roten Fähnchen ("Remove before flight") von den Raketen unter den Flügeln entfernen kann: "Sidewinder", die sich selbst in Richtung eines anvisierten Ziels lenken können. Jetzt sind sie scharf.

Die beiden Jäger heben laut aufheulend kurz hintereinander ab und steigen fast senkrecht in die Höhe. Rund einmal pro Woche, so German Duty Controller Weber, ist das keine Übung: Dann stimmt etwas nicht im Luftlagebild auf seiner Leinwand am Niederrhein. Innerhalb von fünfzehn Minuten müssen die Maschinen laut Nato-Norm in der Luft sein. "An guten Tagen schaffen wir es in acht Minuten", sagt Michael Trautermann, der Kommandeur der Fliegenden Gruppe des Jagdgeschwaders 71 "R" in Wittmund.

Zwei Alarmrotten teilen sich Deutschland auf: Die zweite ist in Neuburg an der Donau stationiert. Für die Hälfte des Landes, die nördlich der Mainlinie liegt, sind die Wittmunder zuständig. Mit Nachbrenner können sie in weniger als einer Viertelstunde bis nach Berlin donnern.

Oder nach Frankfurt. Dort drohte Januar 2003 ein geistig Verwirrter, sich mit seinem Kleinflugzeug in ein Bankenhochhaus zu stürzen. Die Alarmrotte aus Neuburg flog hin - und dann eher dumm herum. Jener 5. Januar machte den Politikern klar, dass sie Geisterfliegern nichts entgegenzusetzen hatten: Die Bundeswehr im Inneren einsetzen? Gegen einen Zivilisten? Gar präventiv schießen? Es mangelte an Gesetzen, Entscheidungssicherheit, Kommunikation. Die Schreckstunden waren einer der Auslöser für den Aufbau des NLFZ und den Entwurf des neuen Luftsicherheitsgesetzes.

Der verwirrte Frankfurter Renegade ließ sich zum Aufgeben überreden. Wenn aber ein Angreifer fest entschlossen wäre, hätten auch die Männer in den doppelt schallschnellen Düsenjägern nicht viele Möglichkeiten, ihn an seinen Plänen zu hindern. Simon Leibold, Waffensystemoffizier und damit der Mann mit dem Finger am Abzug, beschreibt die ersten Schritte in der Routinereihenfolge eines Ernstfalls: "Wir fliegen von unten links an die Maschine ran und identifizieren sie nach Typ und Kennzeichen. Mit dem Piloten kann man sich praktisch nur über die international gültigen Sichtsignale verständigen - meistens hat man ja nicht die gleiche Frequenz."

Denn ihre Funkgeräte nutzen ein anderes Frequenzband als zivile Geräte. Jetzt sollen neue eingebaut werden. Stellt sich die Situation nicht, wie bisher immer, als Missverständnis heraus, so sieht der Plan zunächst vor, den Renegade abzudrängen oder zur Landung zu zwingen. Doch Kommandant Trautermann räumt ein: Das klappt nur, wenn der fremde Pilot sich auch zwingen lässt. Flugzeuge von mehreren Dutzend Tonnen, die mit über 800 Stundenkilometern durch die Luft pflügen, kann man nicht ohne Weiteres herunterbremsen.

"Dann könnte der Pilot nur noch versuchen, ihm ein Triebwerk auszublasen", sagt Michael Urban, in Kalkar zuständig für die Ausbildung der Anschlagsverhinderer, "ein riskantes Manöver für beide Beteiligten." Fliegt der Jäger genau vor einer Turbine des Passagierjets her, wird statt Luft der Abgasstrahl des Jägers angesaugt - die Verbrennung im Triebwerk erstickt, das Manövrieren wird schwieriger. "Wenn wir jemanden so davon abhalten können, in Frankfurt in den EZB-Tower zu fliegen, haben wir ihm schon mal das Ziel vermiest", sagt Urban, "und dann gibt er vielleicht doch auf."

Wenn nicht, bleibt der politischen Führung zynische Arithmetik: Wie viele Leben opfern, um wie viele zu retten? Ein Flugzeug voller Passagiere abschießen, um Schlimmeres zu verhindern?

In Kalkar sind auf einer Landkarte mit blauer Schrift Kernkraftwerke, mit grüner Schrift Öl- und Flüssiggasanlagen sowie Standorte der Chemie- und Rüstungsindustrie eingezeichnet. Per Mausklick projiziert Weber eine Deutschlandkarte an die Wand, die die Bevölkerungsdichte einzelner Gegenden anzeigt: Ein Abschuss über dem Ruhrgebiet oder der Lüneburger Heide? Ein drastischer Unterschied im Risiko für die Bevölkerung.

Spekulationssache ist indes, was nach dem Druck auf den Feuerknopf passiert. "Man könnte da nur hoffen, dass es die Maschine in tausend Teile zerreißt - nicht dass nur ein Triebwerk getroffen wird und der Rest intakt Richtung Erde rast", sagt Urban. Seriöse Untersuchungen dazu gibt es aber nicht - woher auch?

Auch keiner der Piloten der Alarmrotte hat jemals den Abschuss einer Maschine erlebt. Doch Bordraketen und -kanone gehören als letzte Mittel zum Szenario. Ist das ein Gedanke, der sich seit dem 11. September 2001 anders anfühlt? "Wenn wir hier bei 1G im Sofa sitzen, kann man sich solche Gedanken locker machen", sagt Alarmrotten-Pilot Robert Schulz. 1G bedeutet in der Fliegersprache einfache Gravitation, normale Erdanziehung im Gegensatz zum Vielfachen dieser Kraft, die die Mannschaften bei rasantem Flug in die Schleudersitze presst. "Aber wenn die Glocke klingelt, ist es immer genau gleich. Auch wenn wir schon eher davon ausgehen, dass sich wieder jemand verflogen hat."

So musste die Wittmunder Rotte kürzlich eine polnische Passagiermaschine ansteuern, deren Flugplan nicht angemeldet war und die für die Flugsicherung völlig überraschend auf dem Radarschirm auftauchte. Fast alle Alarmierungen erweisen sich später als Irrtümer oder Missverständnisse. Bezahlen müssen Fluggesellschaften für solche Einsätze bislang nicht.

Diesmal, das haben Hohmann und seine Kameraden erst in der Luft per Funk erfahren, war der Einsatz nur eine Übung. Wie so häufig. Inzwischen sind sie auf dem Heimweg. Schon aus der Ferne erkennt man die Maschinen: In einer weiten Schleife nehmen sie Kurs auf die Landebahn. Diese Schleife scheint einen Augenblick lang rußig in den Himmel geschrieben zu sein.

"Luftwaffendiesel" werden die Maschinen genannt. Ein hohes Pfeifen, dann, unmittelbar nach dem ersten Bodenkontakt der Hinterräder, noch bevor das Bugfahrwerk aufsetzt, entfaltet sich ein Stoffschirm hinter dem Heck - um beim Bremsen Material zu sparen. Der nächste Alarmstart ist nur einen Anruf aus Kalkar entfernt. (sma)