Online-Spiele, die die Welt verändern

Eine neue Art von Spielen ist im Kommen: sie kombinieren virtuelle und reale Welt und zwingen die Teilnehmer zur Kooperation.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Henry Jenkins
Inhaltsverzeichnis

Es war eine Art von Informationsschnitzeljagd und dauerte mehr als 16 Wochen. Etwa eine halbe Million Spieler beteiligten sich daran - mal in kleineren Teams, mal als riesige Problemlösungs-Community.

Die Spieler mussten sich sowohl im echten Leben als auch im Cyberspace treffen, um Rätsel mit Informationen aus dem Internet zu knacken und die Lösung dann an bestimmte Orte in der physischen Welt zu bringen. Eines der Puzzles erforderte die Dekodierung von GPS-Daten und schickte die Teilnehmer zu Hunderten von Telefonzellen in den ganzen USA, wo sie dann unvorbereitet Fragen beantworten mussten. Um die richtigen Antworten geben zu können, waren sie darauf angewiesen, von völligen Unbekannten die nötigen Informationen zu bekommen. Der ungewöhnliche Name dieses Spiels lautet "ilovebees", und so heißt auch eine fiktionale Honig-Firma, deren Website den Ausgangspunkt der virtuellen Schnitzeljagd bildete. Und was steckte hinter dem Spiel? Eigentlich war es nichts anderes als eine Marketingmaßnahme für das neue Xbox-Spiel "Halo 2", erdacht von einem Unternehmen namens 4orty2wo Entertainment.

Die 4orty2wo-Gründer Elan Lee und Sean Stewart hatten zuvor schon "The Beast" kreiert, ein ähnliches Spiel, das Interesse am Spielberg-Film "AI" wecken sollte. Die beiden sind Pioniere eines Genres namens "Search Opera" (in Anlehnung an "Soap Opera"), das von den Spielern oft auch "Alternative Reality Game" oder kurz ARG bezeichnet wird.

Die größten Fans dieses Genres sehen darin viel mehr als nur virales Marketing: ARGs zeigen den Teilnehmern, wie sie sich durch komplizierte Informationsumgebungen bewegen und dann ihr Wissen kombinieren können, um Probleme zu lösen. Selbst im Alltag, sagt Jane McGonigal, Community-Leiterin bei ilovebees und Doktorandin im Fach Performance Studies an der University of California in Berkeley, fühlten sich ARG-Spieler "leistungsfähiger, selbstbewusster, ausdrucksstärker, engagierter und sozial besser vernetzt".

Das Alternative Reality-Gaming ließe sich auch als das heutige Äquivalent einer alten Literaturform betrachten - es leitet sich vom Briefroman ab. Viele frühe Romane, etwa "Pamela" (1740), "Les Liaisons Dangereuse" (1782) oder die "Leiden des jungen Werther" (1815) bestanden aus falschen Briefen, Tagebüchern und Zeitungsartikeln, die vom Autor eingesetzt wurden, ohne dass er die Leser darüber in Kenntnis setzte. Der Ich-Erzähler behauptet so beispielsweise oft, die Unterlagen in einer alten Kiste gefunden oder in anonymen Briefen übermittelt bekommen zu haben.

Wie man für Spiele wie "The Beast" heute vorgeht, beschreibt Stewart auf seiner Homepage wie folgt: "Man schafft eine in sich geschlossene Welt im Web, die vielleicht tausend Seiten tief ist. Dann erzählen man darin eine Geschichte und bringt den Plot jede Woche voran. Dabei wird jeder Einzelteil der Erzählung so versteckt, dass man schlaues Teamwork braucht, um ihn auszugraben. Einsetzen lassen sich dabei viele Medienformen: Fotos, Filme, Tonaufnahmen, Drehbücher, Firmenmitteilungen, Logos, grafische Beschreibungen, Websites oder Flash-Filme. Diese werden dann in einem Netz scheinbar zusammenhanglosen Internet-Seiten verteilt - oder auch per Telefon, Fax, Pressemitteilung, Tipps an die Presse, falsche Zeitungsanzeigen und vieles mehr."