E-Antrieb fürs Hirn

Tiefenhirnstimulation scheint die geistige Leistungsfähigkeit des Gehirns bei neurologischen Leiden zu verbessern. Nun wollen erste Mediziner damit auch Gesunde intelligenter machen.

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Von
  • Kristin Raabe

Tiefenhirnstimulation scheint die geistige Leistungsfähigkeit des Gehirns bei neurologischen Leiden zu verbessern. Nun wollen erste Mediziner damit auch Gesunde intelligenter machen.

Als der Düsseldorfer Neurologe Lars Wojtecki die Testergebnisse seiner hirngeschädigten Patienten begutachtete, traute er seinen Augen nicht. "Sie hatten besser abgeschnitten als die Gesunden in der Kontrollgruppe." Die Patienten litten an Chorea Huntington, einer Erkrankung, die nach und nach Nervenzellen in einem Teil des Zwischenhirns zerstört.

Die Folge sind schwere Bewegungsstörungen und eine fortschreitende Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit. Es schien also undenkbar, dass diese Patienten irgendeine Aufgabe besser lösen könnten als Gesunde. Genau das aber gelang ihnen.

Möglich gemacht hatte dies die sogenannte tiefe Hirnstimulation, bei der Neurochirurgen Elektroden zu genau definierten Zielen ins Gehirn einführen. Denn Nervenzellen kommunizieren durch elektrische Signale, entsprechende Impulse an der richtigen Stelle können daher die Aktivität des erkrankten Hirnareals beeinflussen. Bei Parkinson-Patienten setzen Mediziner diese Therapiemethode schon seit Jahrzehnten erfolgreich ein, um das für die Krankheit typische Zittern zu unterdrücken.

Doch jetzt wollen Mediziner mithilfe der Elektrodenimpulse auch Defizite in der geistigen Leistungsfähigkeit ausgleichen. Denn erste Ergebnisse aus Pilotstudien weisen darauf hin, dass die Behandlung bei schweren neurologischen Erkrankungen eben nicht nur den körperlichen Verfall bremsen kann, sondern auch den kognitiven. Nun sind mehrere größere Studien mit der Tiefenhirnstimulation geplant.

Lars Wojtecki peilte bei der Behandlung seiner Huntington-Patienten das sogenannte Innere Pallidum an, einen etwa bohnengroßen Knotenpunkt im Zwischenhirn. Er wusste, dass sich damit vor allem die Bewegungsstörung der Patienten behandeln lässt: große unwillkürliche Bewegungen der Gliedmaßen etwa oder Zuckungen im Gesicht. "Wir wollten herausfinden, ob wir mit einer etwa vier bis fünf Millimeter weiter außen gelegenen Stimulation auch die kognitiven Probleme behandeln können", berichtet Wojtecki.

Mit einem Test überprüfte der Düsseldorfer Neurologe den Erfolg seiner Therapie. Die Patienten mussten per Tastendruck entscheiden, ob ein Pfeil, der auf einem Monitor erschien, in dieselbe Richtung zeigte wie ein Pfeil, der kurz vorher erschienen war. Das überraschende Ergebnis: Die Huntington-Patienten machten unter Stromeinfluss weniger Fehler als Gesunde – während sie zuvor häufiger falsch lagen.

Mithilfe der Elektro-Encephalografie (EEG) überprüfte er die Aktivitätsmuster der Gehirne. Gesunde Versuchspersonen werden langsamer, wenn sie einen Fehler gemacht und erkannt haben, und diese Verlangsamung zeigt sich auch in der elektrischen Aktivität ihres Gehirns. Bei Huntington-Patienten fehlen normalerweise diese Veränderungen – nicht aber in Wojteckis Test. "Wir konnten bei dieser Aufgabe völlig normale EEG-Kurven bei ihnen sehen."

Als Nächstes will der Neurologe untersuchen, ob sich die bisher nur im Labor nachweisbare Verbesserung auch im Alltag zeigt. "Die Patienten meinen schon, dass sie auch zu Hause etwas spüren", berichtet er. Tatsache ist aber auch, dass der Neurologe in keinem anderen Test, beispielsweise zur Gedächtnisleistung, eine Verbesserung nachweisen konnte. Die Ergebnisse sind jedoch so ermutigend, dass nun eine europaweite Studie an mehreren Kliniken geplant ist.

Hoffen lässt die Mediziner zudem, dass die Stromimpulse auch bei anderen neurologischen Leiden erstaunliche Wirkung zeigen. Einer der ersten Mediziner, der die Möglichkeiten der tiefen Hirnstimulation für die Verbesserung kognitiver Fähigkeiten bei neurodegenerativen Erkrankungen erkannte, war der kanadische Neurochirurg Andres Lozano von der Universitätsklinik Toronto. Bei Alzheimer-Patienten platzierte er die Elektroden in der sogenannten Fornix. Diese Faserbahn beeinflusst viele Hirnfunktionen und besitzt auch Verbindungen zum Hippocampus. Der Hirnteil gilt als Gedächtniszentrum.

Bei Alzheimer-Patienten schrumpft der Hippocampus normalerweise mit dem Fortschreiten der Erkrankung. Damit einher geht eine messbar abnehmende geistige Leistungsfähigkeit. Andres Lozano gelang es 2011 jedoch, mit Stromimpulsen den Prozess zu stoppen. Bei immerhin zwei von sechs Patienten war der Hippocampus ein Jahr nach dem Einsetzen der Elektroden um etwa fünf Prozent gewachsen. Die Stimulation hatte anscheinend zur Bildung neuer Nervenzellen in diesem Hirnteil geführt. Auch die Gedächtnisleistung war bei diesen zwei Patienten besser als erwartet.

Noch besser sind die Ergebnisse aus einer deutschen Pilotstudie, die der Psychiater Jens Kuhn 2014 veröffentlichte. Er konnte den geistigen Verfall sogar bei vier von sechs behandelten Alzheimer-Patienten aufhalten, ebenfalls innerhalb eines Jahres nach Therapiebeginn. Kuhn bleibt zwar vorsichtig: "Das sind im Moment nur erste Hinweise, dass die tiefe Hirnstimulation einen Nutzen für die Alzheimer-Patienten haben könnte." Doch der Neurologe will nun mit einer größeren Studie untersuchen, wie gut die Behandlung wirkt.

Denn zum einen sind alternative Therapien rar – sei es nun bei Alzheimer, Chorea Huntington oder anderen neurologischen Leiden. Zum anderen besitzt die Elektrostimulation zwei wichtige Vorteile gegenüber Medikamenten: Sie wirkt nur in dem Hirnareal, das durch die Erkrankung beeinträchtigt ist. Zudem sind die Nebenwirkungen überschaubar. Das Risiko, dass beim Einsetzen der Elektroden Blutgefäße verletzt werden und es zu gefährlichen Hirnblutungen kommt, liegt in spezialisierten Zentren unter einem Prozent. Wenn die Elektrodenimpulse zu unerwünschten Verhaltensänderungen führen, lässt sich das durch das Abschalten der Stimulation sofort unterbinden.

Schon gibt es sogar erste Mediziner, die sich vorstellen können, diese Methode auch bei geistig Gesunden zur Verbesserung der neuronalen Leistungsfähigkeit einzusetzen. Andres Lozano gehört zu ihnen – auch wenn er sehr gut weiß, wie groß die Ungewissheit bei dieser Behandlung noch ist. 2008 hatte er einem fettleibigen Patienten ebenfalls tiefe Hirnelektroden in die Fornix eingeführt, um auf diese Weise seine Esssucht zu behandeln.

Als der Strom eingeschaltet wurde, begann für den 50-jährigen Patienten auf dem Operationstisch eine Zeitreise: Er erlebte einen dreißig Jahre zurückliegenden Parkspaziergang mit Freunden noch einmal und konnte den überraschten Ärzten sogar die Details der Kleidung seiner Begleiter beschreiben. In den Wochen nach der OP unterzogen Ärzte und Psychologen den Patienten immer neuen Tests. Sein IQ stieg während der Stimulation um 9 Punkte von 125 auf 134 und fiel bei abgeschaltetem Strom wieder auf das Ausgangsniveau zurück.

In einem Gedächtnistest erreichte er mit abgeschalteten Elektroden 40 Punkte, war der Hirnstimulator angeschaltet, lag das Ergebnis bei 70 Punkten. Nie zuvor war es gelungen, durch eine Behandlung die geistige Leistungsfähigkeit eines Menschen innerhalb kürzester Zeit so dramatisch zu steigern.

Und trotzdem zeigt Lozanos Ergebnis, wie unberechenbar ein derartiger Eingriff nach wie vor ist. Denn die Wirkung der Elektrodenimpulse lässt sich zumindest mit dem bisherigen Wissensstand nur schwer kalkulieren. Lozano verfehlte das eigentliche Ziel der Operation: Das Essverhalten des 190-Kilo-Mannes veränderte sich nicht. (bsc)