Filme ohne mich

Nicht nur Informationsmassen fluten auf uns zu, auch die Werbung nimmt neue AusmaĂźe an. Zeitdiebstahl entwickelt sich zu einem neuen Tatbestand.

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Von
  • Peter Glaser

Nicht nur Informationsmassen fluten auf uns zu, auch die Werbung nimmt neue AusmaĂźe an. Zeitdiebstahl entwickelt sich zu einem neuen Tatbestand.

2010 verklagte die Anwältin Xiaomei Chen in der chinesischen Stadt Xi'an ein Kino und einen Filmverleih wegen Zeitdiebstahls. Sie hatte sich im Juli eine Vorstellung des chinesischen Kino-Sommerhits "Nachbeben" angesehen (ein Familiendrama über eine durch ein Erdbeben auseinandergerissene Familie). Vor dem Hauptfilm wurden erst einmal 20 Minuten Werbung gezeigt. Im August sah sie sich den Film gemeinsam mit Freunden nochmal an, neuerlich eingeleitet mit einer opulenten Werbe-Overtüre.

Da sie nicht darauf hingewiesen worden sei, dass ein solch extrem ausladendes Reklamevorspiel zu erwarten sei, klagte sie auf RĂĽckgabe ihres Eintrittsgelds (35 Yuan, etwa 4 Euro), einen Yuan Schmerzensgeld als Kompensation fĂĽr den erlittenen seelischen Schaden sowie eine schriftliche Entschuldigung in einer Zeitung. Das Gericht sprach ihr in dem nachfolgenden Prozess die Retournierung des Eintrittsgelds zu, wies aber die beiden anderen Anklagepunkte ab.

Als Kind war ich mit meinem Großvater oft in einem Nonstop-Kino, es gab dort eine gewisse Dramaturgie, deren Ablauf sich immer wiederholte: erst ein sogenannter Kulturfilm (etwa über den Hochspannungsleitungsbau in Jugoslawien), danach Fox' Tönende Wochenschau und dann der Hauptfilm. Es gab keine Klimaanlage und ab und zu lief jemand mit einer Sprühpumpe herum und blies etwas in die Kinoluft, von dem mein Großvater sagte, es sei Flit (ein Insektizid, wie ich Jahre später eruierte). Vielleicht war es aber auch einfach nur ein süßlicher Duft, welcher der silbern flimmernden Kinoluft einen angenehmen Hauch verleihen sollte. Die Kulturfilme stahlen mir auch meine Zeit, aber ich ließ es geschehen, denn Kino war ein besonderer Genuss, dem sich auch rätselhafte oder bizarre Vorfilme unterzuordnen hatten.

Aber die Zeiten sind vorbei. Längst haben wir zu viel der vormals besonderen Genüsse. Heute lautet die zentrale Frage: Wie komme ich an Qualität? Zum Beispiel, indem ich für Medienerlebnisse bezahle, etwa eine Kinokarte, denn Säle zu digitalisieren und in kleinen Wohnungen downloadbar zu machen, ist noch nicht gelungen. Mit dem durch das Netz ausgelösten Kulturgut-Tsunami hat sich das Filterproblem in einem Maß verschärft, das in den 60er- und 70er-Jahren nicht abzusehen war.

Die Informationsgesellschaft hat in jenem Moment begonnen, in dem klar war, dass zu viele Informationen vorhanden sind. Aus der Zivilisation wird nun eine Zuvielisation – Überinformation ist der Smog des 21. Jahrhunderts. Je kompakter und intelligenter jemand heute seine Ideen oder sein Wissen aufbereitet, desto wertvoller wird sein Beitrag. Es ist mit Informationen wie mit Uhren: Wer eine Uhr hat, weiß immer, wie spät es ist. Wer viele Uhren hat, ist sich nie sicher. Den juristischen Ansatz von Frau Xiaomei sollten wir Mediennutzer auf jeden Fall als Schritt in die richtige Richtung ansehen. Es darf nicht sein, dass Kulturgut zu einem Anhängsel metastasierender Werbeformen verkommt. Lebenszeitraub sollte in einer Wissensgesellschaft als neuer Tatbestand diskutiert werden.

Lösungsansätze, Qualität aus den Medienozeanen zu fischen, gibt es schon lange, bis hin zur Empfehlungsökonomie von Twitter und Facebook oder vorausschauenden Algorithmen.

Diese Dienste und Anwendungen versuchen, einem Lebenszeit zu schenken. Anstatt, wie früher, erst einmal eine Stunde lang die Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen oder die relevanten Technik-Publikationen durchzulesen, haben die guten Menschen vom Perlentaucher das schon mal für einen vorerledigt und bieten statt langer Artikel verdichtete Resümees. Aggregation ist ein hässliches Wort für eine gute Sache. Das gibt uns ein paar Augenblicke lang googlefrei, wir müssen nicht herumsuchen.

Aber das ist erst ein zarter Anfang. Ich warte schon auf den Mediaplayer mit integrierter Feuilleton-Fähigkeit, der Filme nicht nur abspielen, sondern auch angucken kann, also Filme auch ohne mich vorab nach Güte und Wert durchkämmt und mir bei Bedarf sagen kann: Spar dir die anderthalb Stunden. Der Film ist mies und die Zeit gibt dir niemand wieder. (bsc)