Keine Angst vor 4.0

Politik und Verbände bejubeln Industrie 4.0. Doch kleine und mittelständische Betriebe zögern. Sie schaffen den Einstieg in die vernetzte Produktion nur in kleinen Schritten. Neue Angebote sollen sie dabei unterstützen.

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Von
  • Bernd Müller
Inhaltsverzeichnis

Politik und Verbände bejubeln Industrie 4.0. Doch kleine und mittelständische Betriebe zögern. Sie schaffen den Einstieg in die vernetzte Produktion nur in kleinen Schritten. Neue Angebote sollen sie dabei unterstützen.

"Das Zeitalter der vernetzten Industrie beginnt auf der Hannover Messe 2016." So steht es in der Ankündigung der Deutschen Messe zur weltgrößten Industrieausstellung. Womit sich die Frage aufdrängt, was eigentlich vor dem Beginn dieses Zeitalters war – also auf den Hannover Messen 2015, 2014 und davor. Denn schon in den vergangenen Jahren wurde verkündet, dass die vierte industrielle Revolution begonnen habe. Manche Revolutionen dauern eben etwas länger, sind dann aber umso gewaltiger.

In den tausenden kleinen und mittelständischen Industriebetrieben, die das Rückgrat der deutschen Wirtschaft sind, ist von der Revolution noch wenig zu spüren. Allenthalben wird hier ein wenig digitalisiert, dort automatisiert, voll vernetzt arbeiten die wenigsten. Industrie 4.0, die digitale, vernetzte Produktion mit sich selbst steuernden Fabriken aus cyberphysischen Systemen, ist eher eine Karotte, die Politik und Branchenverbände wie VDMA oder Bitkom ihren Mitgliedsunternehmen vor die Nase halten, um diese zu mehr Tempo anzuspornen. Das ist auch nötig, denn wenn die deutschen Unternehmen die Vorteile von Industrie 4.0 nicht nutzen, werden es andere tun, insbesondere Unternehmen in den USA, das 2016 Partnerland auf der Hannover Messe sein wird.

Wo die Unternehmen des deutschen Maschinen- und Anlagenbaus bei der Umsetzung von Industrie 4.0 heute stehen, hat eine Studie der Impuls-Stiftung des VDMA untersucht. Sie misst die Industrie-4.0-Readiness, also die Bereitschaft und Fähigkeit der Unternehmen zur Umsetzung von Industrie-4.0-Konzepten und teilt die Unternehmen in die Kategorien "Neulinge", "Einsteiger" und "Pioniere" ein. Unter www.industrie40-readiness.de finden Unternehmen einen Online-Selbstcheck, mit dem sie sich selbst einordnen können.

Wenige Pioniere

Die frohe Botschaft der Readiness-Studie: Industrie 4.0 ist im deutschen Maschinen- und Anlagenbau angekommen. Mehr als jedes fünfte Unternehmen im Maschinen- und Anlagenbauunternehmen beschäftige sich intensiv damit. Diese Unternehmen erkennen in Industrie 4.0 eine Möglichkeit, sich am Markt zu differenzieren. Doch bei näherem Hinsehen sind die Zahlen noch mager. Mit 5,6 Prozent zählt nur ein kleiner Teil der Unternehmen zu den Pionieren. 17,9 Prozent der Unternehmen sind Einsteiger. Mit 76,5 Prozent hat die überwiegende Mehrheit bisher noch keine systematischen Schritte zur Umsetzung unternommen und zählt zu den Neulingen bei Industrie 4.0.

Wobei die Unternehmensgröße einen Unterschied macht. Große Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus sind weiter bei der Einführung von Industrie 4.0 als kleine und mittelständische Unternehmen. Für ein kleineres Unternehmen alleine ist es kaum möglich, unabhängig von Partnern einen höheren Grad der Industrie 4.0-Readiness zu erreichen.

(Bild: VDMA/IMPULS-Stiftung)

Um hier vorwärts zu kommen empfiehlt die Studie den Firmen, Industrie 4.0 stärker in der Unternehmensstrategie zu verankern. Vier von zehn Unternehmen haben noch keine Strategie für Industrie 4.0. Wichtig dabei ist, die Belegschaft rechtzeitig zu qualifizieren. 30 Prozent der Unternehmen geben an, betriebsintern keine Kernkompetenzen zu besitzen, um die Anforderungen an Industrie 4.0 aus Mitarbeitersicht zu bewältigen. Ganz mau sieht es beim datenbasierten Dienstleistungsangebot aus. Doch gerade mit Produktzusatzfunktionalitäten lassen sich Produkte und Lösungsansätze entwickeln, die auf die Kunden zugeschnitten sind.

Fehlende Finanzkraft

All das ist weitgehend bekannt, der gute Wille ist auch vorhanden, doch häufig fehlt das Geld. Wegen der steigenden Komplexität von fortschreitenden Industrie 4.0-Projekten geben knapp zwei Drittel der Pioniere an, dass die fehlende Finanzkraft sie daran hindert, das Thema weiter voranzutreiben. Die Autoren der Impuls-Studie sehen hier auch die Politik in der Pflicht, mit angemessenen Maßnahmen wie der steuerlichen Forschungsförderung Industrie 4.0 zu unterstützen.

Mit einer bloßen Bestandaufnahme lässt es der VDMA zum Glück nicht bewenden. Gerade hat der Verband einen Leitfaden Industrie 4.0 vorgestellt, der vor allem mittelständischen Unternehmen den Einstieg erleichtern soll. Statt Erfolgsstorys und Vorteile aufzuzählen, enthält der Leitfaden erstmals eine detaillierte Anleitung, wie Unternehmen in fünf Schritten in Industrie 4.0 einsteigen können. Zu den Schritten gehören eine Bestandsaufnahme der Kompetenzen und Ressourcen im Unternehmen, insbesondere aber ein Kreativ-Workshop, der Ideen für Geschäftsmodelle sammelt, die anschließend auf ihre Umsetzung bewertet werden. In vier mittelständischen Unternehmen hat der VDMA den Prozess bereits durchgespielt – mit Erfolg. Am Ende bietet der Leitfaden einen Werkzeugkasten Industrie 4.0 mit Empfehlungen zur schrittweisen Umsetzung in Produkten und Produktion.

Digitalisierung ist kein Selbstzweck

Vielleicht ist selbst das den vielen kleineren Unternehmen noch zu aufwändig. Sie können und wollen sich nur kleine Schritte leisten und erst mal die klassischen Themen wie höhere Effizienz und Kostenreduktion angehen, die im alltäglichen Geschäft am meisten drängen. "Wir schauen uns erst mal den Gesamtprozess an und wo wir diesen beschleunigen können", sagt Dr. Michael Schwarzer, Vorstand der Otto Wassermann AG. Die Münchener Unternehmensberatung hilft Industriebetrieben beim Einstieg in Industrie 4.0. Digitalisierung? Das sei Mittel zum Zweck und kein Ziel an sich, warnt Schwarzer. Bei Beratungsgesprächen mit Kunden stelle sich oft heraus, dass ein höherer Automatisierungsgrad – und damit Digitalisierung der Produktion – nicht unbedingt den größten Effekt bringen muss.

Vielmehr ist es zunächst sinnvoll, den gesamten Leistungsprozess, also von der Anfrage bis zur Auslieferung zu betrachten und den tatsächlichen Engpass dieses Prozesses zu finden. Nur an diesem Engpass lohnt sich die Investition zur Beschleunigung im Sinne von Industrie 4.0, und das muss nicht notwendigerweise die Produktion sein. Zum Beispiel hakt es oft an der Kommunikation zwischen Kunde und Unternehmen. Hier ist es sinnvoll, mit Digitalisierung Informationen schneller fließen zu lassen, etwa über Systeme, mit deren Hilfe Kundeninformationen wie Auftragsdaten direkt in die Konstruktion, die Beschaffung oder in die Produktion eingespielt werden. In einem konkreten Fall konnte ein Betrieb die Durchlaufzeit von der Bestellung bis zur Auslieferung von neun auf zwei Wochen verkürzen, ohne jede Änderung an der Produktion selbst.

Individualisierte Produkte anzubieten ist eine Anforderung, mit der Unternehmen immer häufiger konfrontiert sind. Doch auch hier helfe mehr Digitalisierung nicht immer, meint Schwarzer – im Gegenteil: "Manchmal raten wir sogar zur Entdigitalisierung." Die Dynamik eines komplexen Wertschöpfungsprozess digital abzubilden, sei nicht immer möglich. Dann könne es zum Beispiel helfen, die EDV zunächst aus der Produktion herauszunehmen und etwa den Auftragsfluss selbststeuernd in eigenverantwortlichen prozessorientierten Teams mit einfachen Methoden abzuwickeln. Die Digitalisierung finde dann an den Schnittstellen statt, etwa zwischen Konstruktion und Produktion.