Wahlen unter Geschäftsgeheimnis

Die Sozialwahl 2011 hatte dem von T-Systems entwickelten Internetwahlsystem „voteremote“ den Durchbruch bringen sollen. Doch nach der Wahlcomputer-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde die Premiere abgesetzt.

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Von
  • Richard Sietmann
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Eigentlich schien alles in trockenen Tüchern. In den Berliner Ministerien kursierten bereits Entwürfe zur Anpassung des Betriebsverfassungsgesetzes und des Sozialgesetzbuches, in diesem Jahr war noch ein Test geplant und dann sollte zur nächsten regulären Sozialwahl 2011 bei drei Krankenkassen in Hamburg flächendeckend erstmals bei einer gesetzlich geregelten politischen Wahl die Stimmabgabe vom PC aus möglich sein. Mit insgesamt 5,2 Millionen Euro hat das Bundeswirtschaftsministerium seit 2002 erst das Projekt WIEN (Wählen in elektronischen Netzen) und danach bis Ende letzten Jahres „voteremote“ zur Entwicklung eines Prototypen bei T-Systems gefördert. Das Ziel: Ein Wahlsystem, mit dem zunächst nicht-parlamentarische Wahlen „technisch sicher unter Einhaltung rechtlicher Anforderungen“ durchgeführt werden können. Darüber hinaus sollte voteremote auch Erkenntnisse für parlamentarische Wahlen via Internet liefern, „da die Wahlrechtsgrundsätze für alle Wahlen gleich sind“.

Diese Grafik eines allgemeinen e2e-Wahlsystems ist bisher das einzige, was zur Architektur von „voteremote“ veröffentlicht wurde; das Wahlprotokoll selbst ist proprietär.

Für die Anhänger der Mitbestimmung bei den Trägern der Sozialversicherungen bedeutete voteremote so etwas wie einen Rettungsanker. Von der Onlinewahl erhofften sie sich mehr als nur eine Trendumkehr der kontinuierlich gesunkenen Wahlbeteiligung, die 2005 nur noch 30,8 % betragen hatte; vor allem sollte sie endlich den Diskussionen über den Sinn der alle sechs Jahre stattfindenden Wahlen zu den Vertreterversammlungen der Versicherten, Rentner und Arbeitgeber bei den Renten- und Krankenkassen ein Ende bereiten: Weil es an Bewerbern mangelte oder sich Interessengruppen im Wege der sogenannten „Friedenswahl“ exakt so viele Kandidaten auskungelten wie Sitze zu vergeben sind, galten die Vorgeschlagenen bei den meisten der 354 Versicherungsträger ohnehin unabhängig von der Zahl der abgegebenen Stimmen automatisch als gewählt.

Doch nachdem das Bundesverfassungsgericht im März den Einsatz von Wahlcomputern bei der letzten Bundestagswahl für verfassungswidrig erklärte, haben Barmer, DAK und TK die Beteiligung in Hamburg nun abgesagt. Damit ist auch der für dieses Jahr beabsichtigte Test von voteremote in einem simulierten Wahlgang mit Mitarbeitern der Deutschen Rentenversicherung Bund hinfällig geworden. Als Gründe führten die Kassen die unklaren Auswirkungen der Karlsruher Entscheidung auf die rechtlichen Rahmenbedingungen sowie „erhebliche technische Probleme bei der Umsetzung“ an. Zudem fürchteten sie, im Falle einer Anfechtung der Onlinewahl die gesamte Wahl erneut durchführen zu müssen und damit erneut in das Visier des Bundesrechnungshofes zu geraten, der vor zwei Jahren erst die unverhältnismäßig hohen Kosten der Sozialwahlen – bundesweit rund 50 Millionen Euro – beanstandet hatte.

Im Wirtschaftsministerium bedauert man den Ausstieg. Dort steht man auf dem Standpunkt, dass es keine Konflikte mit dem Öffentlichkeitsprinzip gibt, weil die Sozialwahl ohnehin eine hundertprozentige Briefwahl ist. Die Möglichkeit zur Stimmabgabe über das Internet bringe „in jedem Fall ein höheres Sicherheitsniveau“ mit sich als bei so einer Briefwahl. Mangels einer wirtschaftlichen Verwertungsperspektive will T-Systems jetzt dem Vernehmen nach voteremote nicht weiter verfolgen. Die Förderung ist ausgelaufen, ein Nachfolgeprojekt ist nicht geplant. Offiziell war von der Telekom-Tochter nur zu erfahren, dass das Vorhaben „erfolgreich abgeschlossen“ wurde und man nun auf die Umsetzung der erforderlichen rechtlichen Rahmenbedingungen warte.

Das dürfte dauern. Denn das Bundesverfassungsgericht hat das Pflichtenheft für die Entwickler von E-Voting-Systemen neu geschrieben – und zwar anders, als es die Protagonisten erwarteten. Obgleich die Hüter des Grundgesetzes im Rahmen einer Wahlanfechtung lediglich die Bundeswahlgeräte-Verordnung sowie die bislang vereinzelt eingesetzten und nicht vernetzten Nedap-Wahlgeräte für verfassungswidrig erklärten, weist doch die Art, wie sie dabei – neben der Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit, Gleichheit und Geheimheit – als sechsten Grundsatz demokratischer Wahlen die öffentliche Kontrolle definierten, weit über den ursprünglichen Streitgegenstand hinaus. Weil die Delegation der Staatsgewalt an die Volksvertretung den ersten und wichtigsten Teil „der ununterbrochenen Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtsträgern“ bilde, müssen angesichts der Manipulationsrisiken „die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Fachkenntnis überprüft werden können“.

Der Hausjurist des Bundeswirtschaftsministeriums in Sachen Informationsgesellschaft und derzeitige Vizepräsident der Universität Kassel, Professor Alexander Roßnagel, war im voteremote-Projekt jedoch von einem TÜV-Modell ausgegangen. Danach würden Experten stellvertretend für die Bürger die öffentliche Kontrolle wahrnehmen. Mit seiner „Projektgruppe verfassungsverträgliche Technikgestaltung“ (provet) lieferte er die Begründung: Die komplexe Technik zur Durchführung von Onlinewahlen erfordere besondere Fachkompetenzen und deshalb sei die Professionalisierung am besten durch ein Outsourcing an spezialisierte Dienstleister gewährleistet. Staatliche Kontrollen, dass diese die gesetzlichen Anforderungen einhalten, würden bei Wählern und Öffentlichkeit die Akzeptanz und das Vertrauen in die Korrektheit des Ergebnisses herstellen. Hinsichtlich der Vertrauenswürdigkeit seiner Organisation hätte sich ein Wahldiensteanbieter dazu einer Evaluierung seiner Geschäftsprozesse zu unterziehen und bei einer staatlichen Behörde zu akkreditieren; für die Vertrauenswürdigkeit der eingesetzten Technik sollte die Evaluierung und Zertifizierung der proprietären Hard- und Software-Komponenten nach den einschlägigen ISO-Sicherheitsstandards der Common Criteria bürgen.

Das Wahlprotokoll von voteremote ist bis dato nicht zertifiziert und auch nicht veröffentlicht worden; das System ist daher einer vernünftigen Einschätzung nicht zugänglich. Insbesondere ist unklar, ob und wie es dem Anspruch tatsächlich gerecht wird, quittungsfrei, beweiskräftig und trotzdem anonym dem einzelnen Wähler die Verifizierung der korrekten Zählung seiner Stimme zu ermöglichen. Die Offenlegung des Quellcodes gehörte ohnehin nicht zu den Förderbedingungen. Vielmehr waren die Steuermittel zur Anschubfinanzierung eines Geschäftsmodells gedacht, die dem Wirtschaftsstandort Deutschland zugute kommen sollte. „Es gibt ja noch nicht so viele fortgeschrittene elektronische Wahlsysteme, die hohe Anforderungen erfüllen“, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium. „Insofern war es durchaus gewollt, dass man eine proprietäre Lösung schafft, die hinterher dem Zuwendungsempfänger neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnet – auch vielleicht im Ausland.“

Roßnagels provet-Gruppe verfasste nicht nur die bislang unveröffentlichten Gesetz- und Verordnungsentwürfe nebst amtlicher Begründung, die das TÜV-Modell für Onlinewahl-Systeme in Paragraphen gossen. Wo Wahlordnungen explizit die öffentliche Stimmauszählung vorschreiben, wie beispielsweise bei Betriebsratswahlen, sollte darüber hinaus eine neue Vorschrift über das Problem hinweghelfen, dass die Auszählung den Augen selbst des Wahlvorstands entzogen bleibt. Dieser sollte beschließen können, so der Vorschlag, „dass die öffentliche Stimmauszählung durch die Anwesenheit von Mitgliedern des Wahlvorstands ersetzt wird, die selbst fachkundig sind oder sich von Sachverständigen ihrer Wahl begleiten lassen“.

Der Wahlcomputer-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hingegen liegt ein anderes Vertrauensmodell zugrunde – eines, das nicht auf Delegation der Kontrolle und Akzeptanz des Ergebnisses, sondern der Beteiligung und der Transparenz des Verfahrens beruht: „Die Bürger selbst“ müssen den Wahlvorgang zuverlässig nachvollziehen können. Roßnagel argumentiert, das Karlsruher Urteil beträfe voteremote nicht unmittelbar, weil es in dem Projekt „weder um Wahlgeräte noch Bundestagswahlen ging“. Zwar hätten die Verfassungsrichter den Wahlgrundsatz der Öffentlichkeit „in einer bis dahin nicht mehrheitlich diskutierten Weise konkretisiert“ – verträten also quasi eine Minderheitsmeinung – doch gälten diese Vorgaben „nicht für Wahlen in privaten Körperschaften und haben auch nur beschränkte Geltung von Wahlen zum Betriebsrat oder zu Vertretungen der Selbstverwaltung in Sozialversicherungsträgern“. Dem Gesetzgeber bliebe ein großer Entscheidungsspielraum, die von seinem Team entwickelten Vorschläge umzusetzen.

Angestrebt wird somit je nach Wahltyp eine Abschwächung der allgemeinen Wahlgrundsätze auf ein – in den Worten von provet-Mitarbeiterin Zoi Opitz-Talidou – „risikoadäquates Sicherheitsniveau“. Dem Privatrecht unterliegende Vereine etwa können sich im Rahmen ihrer Satzungshoheit eine Wahlordnung frei vorgeben und sind dabei nicht an die demokratischen Wahlprinzipien des Grundgesetzes gebunden. Auf der Grundlage des Vereinsrechts führen etwa die Gesellschaft für Informatik (GI) und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Internetwahlen durch. Auf diesem Spielfeld gilt allerdings die voteremote-Lösung als viel zu aufwendig und teuer; GI und DFG wickeln ihre Gremienwahlen mit dem System Polyas der Kasseler Micromata GmbH ab – ohne Zertifizieriung, Akkreditierung und Wahlserver im hochsicheren TrustCenter.

Die gesetzlich geregelten Wahlen orientierten sich demgegenüber bisher an den Vorgaben des Grundgesetzes. Hier harrt die Vermutung der provet-Juristen, dass Betriebsratswahlen einem geringeren Manipulationsrisiko ausgesetzt sind als Bundestags- oder Landtagswahlen noch der schlüssigen Begründung. Inzwischen hält man in Kassel offenbar die eigenen Vorschläge nicht mehr für revisionssicher. Roßnagel hat jetzt gemeinsam mit Rüdiger Grimm, dem Initiator der Onlinewahlen bei der GI, die Förderung eines bis 2011 laufenden Forschungsvorhabens von der DFG bewilligt bekommen. Es steht unter dem Titel, „Juristisch-Informatorische Modellierung von Internet-Wahlen“. Eine derartige Modellierung sollte eigentlich stets am Anfang stehen, aber besser spät als nie. (jk)