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Was war. Was wird.

Die Spießer brachten Oscar Wilde ins Grab - und Hal Faber schickt im Grüße, während er im Müllhaufen des Internet buddelt und einige mehr oder weniger unappetitliche Sachen ausgräbt.

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Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** "Arbeit ist der Fluch der trinkenden Klasse", schrieb einstmals Oscar Wilde, den ich zu seinem 100. Todestag grüße. Dieser Ire war der erste Dandy seiner Zeit. Er wusste zu unterscheiden, und deklarierte, dass der Sinn für Farben wichtiger ist als die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Stets korrekt in Lila gekleidet, gehörte Wilde zur Boheme seiner Zeit, die die Konventionen der Spießer ablehnte. Die Spießer brachten ihn in den Knast und damit um: "Wenn jemand mit mir übereinstimmt, habe ich stets das Gefühl, dass ich Unrecht habe." Womit wir beim Thema sind. Es gibt Leser dieser Wochenschau, die sich an dem Begriff Bobo stören, der bourgeoisen Boheme der Jetzt-Zeit. Wahrscheinlich sind es dieselben Leser, die einen Espresso trinkenden Professor nicht von einem Cappucino schlürfenden Venture-Kapitalisten unterscheiden können.
Ich kann es auch nicht: In der letzten Woche durfte ich den ungemein akademisch klingenden Begriff Assertivität lernen. Er ist, wie sich herausstellte, eine Halbübersetzung des englischen Assertiveness, früher einmal als Anmaßung bekannt. Heute wird es als "Durchsetzungsvermögen ohne Ellenbogen" gebraucht und gehört zum Alltag jeder besseren Startup-Firma. Das behauptet jedenfalls eine Meldung aus dem Hause McGraw Hill. "Assertiveness lädt nicht nur dazu ein, kritische Dialogsituationen wie Kundenbeschwerden oder Meetings auf der analytischen Ebene besser zu verstehen, sondern sie vor allem auch im Artikulations- und Verhaltensbereich mit optimaler Wirkung umzusetzen." So sei es. Mit aller Assertiveness reagiere ich daher auf die Forderung, den Bobo abzusetzen. Und schreibe weiter über seine Nöte.

*** Als da wäre die existenzielle Not, ohne Partner oder Partnerin leben zu müssen. Zu Weihnachten kann das selbst den härtesten aller Bobos erschüttern. Das sieht auch der Verschlüsselungsspezialist Trevor Jones ein, dem die englische Firma Softlok gehört. Auf Kosten des Hauses darf zu Weihnachten jeder Single in der Firma einen Partnervermittlungsdienst in Anspruch nehmen, um den Wunschpartner zum Fest zünftig einzusocken. Dabei haben sich die Zeiten seit Wilde geändert: Wer schwul ist, darf entsprechend den Partner suchen, Hauptsache er wird glücklich. Dafür hat Trevor Jones eine bemerkenswert schlichte Rechnung parat: "Wenn man mit seinem Leben nicht zufrieden ist, beeinflusst das auch die Arbeitsleistung." Und selbige ist bei Softlok gefragt, schließlich möchte man eine erstklassige Verschlüsselung präsentieren, die übliche Tools wie PGP schal aussehen lässt, wie es in der PR der Firma vor einem Jahr hieß. Dabei ist PGP alles andere als unansehnlich! Das Public Genitals Project der Cyberkünstlerin und Protesenforscherin Allucquère Rosanne "Sandy" Stone speichert Körper-Images auf realen Körpern ab. Fleshmapping nennt sich die Technologie, die von dem ehrenwerten Träger dieser Website mit einem eigenen Genitalien-Server unterstützt wird. MORF, das ist die Frage aller Fragen, die kein Schlüssel-Signet wie H20 BSE 88 666 beantworten kann.

*** Aber das macht ja nichts, ob Neuinterpretation von PGP oder BSE-verseuchte Heiratsanzeigen: Das Internet ist ein Raum ohne Grenzen. Meint Vint Cerf, und haut der französischen Justiz damit schwer auf die Finger, denn die will diesen Raum ohne Grenzen doch glatt mit moralischen Argumenten und normaler Rechtsprechung beikommen. So einen Raum ohne Grenzen kann man aber nach Ansicht anderer Leute auch ganz anders beschreiben: Als einen einzigen großen Misthaufen, meint etwa Joseph Weizenbaum. Gut gebrüllt, Löwe. Ein Raum ohne Grenzen ist vielleicht ja das ideale Behältnis für einen Misthaufen. Wer aber auf der Suche nach den Perlen ist, verliert sich in einem Raum ohne Grenzen leicht im Unendlichen. Notorisch als Computerkritiker, wirft aber Weizenbaum doch immer wieder Perlen vor die im Misthaufen wühlenden Säue – oder, um wieder bei Oscar Wilde zu landen: "Wenn man die Wahrheit sagt, kann man sicher sein, früher oder später ertappt zu werden." Stephen Fry, ingeniöser Darsteller des Oscar Wilde in der Filmbiographie, schrieb übrigens in seinem mehr oder weniger geglückten Roman Geschichte machen: "In diesem Leben sind Sie entweder eine Ratte oder eine Maus. Eine Ratte tut Gutes oder Böses, indem sie den Lauf der Welt verändert. Die Maus dagegen tut Gutes oder Böses durch Nichtstun. Welche von beiden möchten Sie sein?" Gute Frage: Lieber ertappt werden beim Aufräumen im Misthaufen oder Nichtstun im Raum ohne Grenzen?

*** Nun, das führt mich etwas ab vom eigentlichen Thema und zu Angela Merkel, über die die Kollegen der Titanic schon zu fragen wussten, ob "das Kanzler werden darf". Sie möchte eine Debatte über "nationale Identität" – und das, um endlich wieder vom "deutschen Vaterland" unbefangen sprechen zu können. Wer wird hier nun bei was ertappt? Spannend wird es natürlich, wie die "nationale Identität", die vom "deutschen Vaterland" zu sprechen berechtigt, im Internet als Raum ohne Grenzen sich materialisiert. Womit ich eigentlich schon wieder halbwegs elegant die Kurve zum Thema dieser Wochenschau genommen hätte: Dem Misthaufen. Denn das würde mich nun speziell interessieren, was das denn nun ist, die nationale Identität der Deutschen – im virtuellen Raum ohne Grenzen, aber natürlich auch im ganz realen Raum mit denselben. Das dunkle Raunen von Martin Walser? Die Stahlgewitter des Ernst Jünger? SAP als teutsches Softwarehaus? Die Deutsche Ideologie von Karl Marx? Sein und Zeit von Martin Heidegger? Der Faust von Goethe? Die Blechtrommel von Grass? Der Fluss ohne Ufer von Hans Henny Jahnn? Die deutschen Entwickler von im Internet verbreiteter Open-Source-Software? Oder das "Ich kann gar nicht soviel fressen wie ich kotzen möchte" eines Max Liebermann zur SA-Parade anlässlich der "Machtergreifung" 1933?
Wie immer auch man die kleine Aufzählung ergänzt: Amüsant jedenfalls der Streit um multikulturelle Gesellschaft und Leitkultur von Leuten, die wohl meist ihre eigene Abstammung (und die gilt wohl leider noch immer, wenn es darum geht, wer Deutscher sein darf) nicht kennen. Sonst wüssten sie, wie multikulti dieses Deutschland zu dem geworden ist, was es ist – das verhinderten alle Mordlager der Nazis nicht. Mit deutschem Vaterland kann ich zumindest wenig anfangen – immerhin stammt die Familie väterlicherseits von Zigeunern ab, die im 15. Jahrhundert in Deutschland sesshaft wurden. Dann vielleicht das deutsche Mutterland? Von mir aus – mütterlicherseits lässt sich nicht mehr nachvollziehen, wann denn die Familie einmal nicht in der Region gelebt hat, die sich heute Deutschland nennt. Ob dies allerdings für die rechtsradikalen Schreier, die Leitkultur-Apologeten und die Nationale-Identität-Sucher reicht, wage ich zu bezweifeln – denn diese urdeutsche Familie hing bis vor zwei Generationen dem jüdischen Glauben an. Pech gehabt. Oder vielleicht sollten sich doch besser Leute wie Merz und einige Aufgeregte in gewissen, thematisch einschlägig belegten Foren dieses unseres Heise-Tickers auch einmal an Oscar Wilde halten: "Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten." Vielleicht fände man dann im Misthaufen die Perlen leichter.

*** Nicht ganz so ernst ist wenigstens eine andere Spezies zu nehmen, die manchmal auch nichts zu sagen hat und trotzdem nicht den Mund hält. Früher war es eine Gewissheit sondergleichen, dass Technikjournalisten für den Leser schrieben. Weibliche Exemplare waren ein Sonderfall, auf beiden Seiten. Ebenso einfach war die Technik gestrickt, die sich wie ein einziger großer Stammbaum darstellte. Doch danach schrieb niemand mehr für den Leser, sondern für den Konsumenten, dem das einfache Leben mit einem Device die höchste Sinnesfreude bringt. Hier war die Sache schon schwieriger. Ein Konsument kann männlich oder weiblich sein und obendrein schnell in sein Gegenteil umschlagen, wenn er online geht und vielleicht alles zusammen ist. Doch nun wird die Sache wieder einfacher. Heute schreibt man nicht für Leser, nicht für Konsumenten, sondern für Investoren, wo der kleine Unterschied keine große Rolle spielt. Reich wollen alle werden, auch wenn sie nur mit heißer Luft spekulieren, Wetterderivate verkaufen und einen Pfurz als Termingeschäft nutzen.

Was wird.

In der nächsten Woche wissen wir ganz sicher, wer der nächste Präsident der USA ist. Oder auch nicht. Zumindest hoffen wir alle, dass die Kanadier, die am Montag wählen, bessere und vor allem wetterfestere Lochkarten haben als ihre Nachbarn. Sonst müssen wir auch dort warten, ob nicht vielleicht die Marijuana-Partei den nächsten Premier stellt, der zugedröhnt die Falkland-Inseln annektiert – und das Terrain zwischendrinne. Oh Kanada, oh Corel, oh Marlene! Wo sind die Ketten, Katzen und Lederkinis geblieben?

Wer in die Zukunft blickt, muss weit nach hinten greifen können: An dem Tag, an dem Kanada wählt, wurde vor zwanzig Jahren das deutsche Kabelfernsehprojekt in Ludwigshafen gestartet. Heute kommt bekannterweise das Internet durch diese Kabel, any day now. Dem Regelbetrieb in Ludwigshafen gingen Experimente in Bremen voraus. Hier ließ der damalige Intendant von Radio Bremen im Jahre 1975 das Kabelfernsehen in einem Stadtteil testen, der seinerzeit der "Neuen Heimat" gehörte. Aus dem Test entsprang ein Gutachten der "Kommission für den Ausbau des technischen Kommunikationssystems". In diesem Gutachten tauchte die Vision eines "Bürger-Rückkanals" auf, der vorzüglich in die SPD-Pläne der Bürgerbeteiligung an der Politik passte. Aber warum erzähle ich das unter dem Rubrum "Was Wird"? (Hal Faber) / (jk)