Transmediale: Die Geburt der Datenüberwachung aus dem Geist des Marketings

Die auf Big Data basierenden Überwachungspraktiken der NSA und "Predictive Policing" entwickelte sich aus dem Customer-Relationship-Management der Wirtschaft, meint der Soziologe David Lyon. Er plädiert dagegen für Datensparsamkeit.

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Überwachung, Kamera
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David Lyon, Leiter des Surveillance Studies Centre an der Queens-Universität im kanadischen Kingston, hat am Wochenende auf dem Berliner Medienkunstfestival Transmediale Einblicke in die Vorgeschichte der Überwachungspraktiken der NSA, von "Predictive Policing" und Todes- sowie No-Fly-Listen gegeben. Spätestens mit den Snowden-Enthüllungen sei klar geworden, dass derlei Phänomene technisch auf Big Data beruhten. Sie seien aber nur zu verstehen, wenn man sich vor Augen halte, in welche größeren gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen sie eingebettet seien.

Für das Post-Panopticon ist laut Lyon die Datenüberwachung elementar. Es gehe den Sicherheitsbehörden also nicht mehr um einen göttlichen Blick in der physikalischen Welt, sondern um Vorhersagen möglichen Verhaltens vor allem auf Basis von Metadaten. Ihren Ursprung haben derlei Big-Data-Verfahren dem Historiker und Soziologen zufolge vor allem in der Marketing-Spielart des Customer-Relationship-Management (CRM) der Wirtschaft. Dabei handle es sich um nichts anderes als ausgefeilte Kundenüberwachung.

Laut Lyon werden Grundwerte wie Neutralität und Vertrauen durch Überwachung untergraben - und damit die Basis des gesellschaftlichen Lebens.

(Bild: Stefan Krempl)

Die CIA, die NSA und das FBI hätten sich alle zuerst auf CRM gestürzt, bevor sie ihre eigenen Varianten davon entwickelt hätten, berichtete Lyon. Solche Systeme gipfelten mittlerweile in der Wirtschaft im mathematisch-statischen Verfahren zum umstrittenen Scoring für die Kreditwürdigkeit von Verbrauchern. Mit Algorithmen würden bestimmte Konsumentengruppen "systematisch benachteiligt", monierte der Sozialwissenschaftler. Google etwa zeige Anzeigen für gut bezahlte Jobs viel häufiger Männern als Frauen.

Gravierender seien die Folgen der Big-Data-Überwachung im staatlichen Bereich, führte Lyon aus. Hier gehe es in der Regel nicht mehr darum, dass Leute bevorzugt, sondern dass möglichst schon ihre rein potenziellen Handlungen verhindert werden. Menschen würden auf dem Feld der "inneren Sicherheit" als "Extrapolation ihrer Aktivitäten" gehandhabt. Ihr Datenschatten folge ihnen nicht mehr, sondern "geht ihnen voraus, bevor er überhaupt aktualisiert wird". "Minority Report" lasse grüßen: Die Unschuldsvermutung und ordentliche rechtstaatliche Verfahren seien die ersten Opfer derartiger Mechanismen.

Bisweilen sei von "Fehlern" des "Profiling" zu hören, das auf Vorhersagen ausgerichtet sei, konstatierte Lyon. So stünden etwa die "falschen" Leute auf No-Fly-Listen. Die von Big Data befeuerte Scoring-Mentalität "berührt uns aber auf viel mehr" und grundsätzlicheren Ebenen, betonte Lyon. Sie sollten nicht nur im Zusammenhang mit dem "abstrakten Staat" gesehen werden, sie müssten auch mit dem Alltagsleben und dem Arbeitsplatz in Verbindung gebracht werden. Letztlich würden Grundwerte wie Neutralität und Vertrauen untergraben und damit die Basis des gesellschaftlichen Lebens. Vorurteile würden verstärkt, die Autonomie kompromittiert.

Alternativen konnte der Forscher nur recht vage aufzeigen, zumal ihm bewusst ist, dass der vernetzte Mensch mit dem Mobiltelefon und sozialen Medien selbst ständig Datenspuren hinterlässt und sich teils mit Wearables in der Selbstüberwachung übt. Es sei aber ratsam, Konzepte der "digitalen Bürgerschaft" wie Anonymität und Verfolgbarkeit neu zu überdenken. Auch das Prinzip der Datensparsamkeit, das dem Digitalverband Bitkom und seinen Anhängern in der Bundesregierung zum Feindbild geworden ist, müsse gezielt wiederbelebt werden.

Isabell Lorey, Jeanette Hofmann und David Lyon auf dem Podium.

(Bild: Stefan Krempl)

Datensparsamkeit führe Organisationen jedenfalls nicht zum Zusammenbruch, erläuterte Lyon: "Man muss nicht alles sammeln." Es gebe auch keinerlei Beweise, dass Konzepte wie die softwaregestützte "vorausschauende" Polizeiarbeit funktioniere. Kriminelle würden in der Regel nach wie vor durch klassische Ermittlungstätigkeit und Beweisführung gestellt. Prinzipiell wolle er den Einsatz "neuer Werkzeuge" nicht pauschal verdammen, sie müssten aber mit konventionellen zumindest verknüpft werden.

Für weitergehende Mittel hatte die Politologin Isabell Lorey plädiert. Der staatliche Sicherheitskurs suche in einem Umfeld der Prekarisierung unter dem Aufhänger von Mobilität, Flexibilität und Wettbewerb die Grundrechte einzuschränken und die menschliche Autonomie in ein Disziplinierungsinstrument umzufunktionieren, warnte sie. Es sei daher nötig, radikal mit neoliberalem Gedankengut zu brechen, Abhängigkeiten zu reduzieren und bunte "Fürsorge-Gemeinschaften" über das Regime der Grenzen von Nationalstaaten hinweg aufzubauen. (kbe)