#20JahreHO

Heise-Träumereien

Eine "Heisekommune" – in der es völlig egal ist, ob Apple, Windows oder Linux genutzt wird, wo diese banalen Unterschiede, die oft zu einem Klassenkampf aufgebläht werden, völlig unwichtig sind und in der die Menschen einfach so idyllisch leben…

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Heise-Träumereien ? Ein User-Beitrag

(Bild: heise online / anw)

Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Ein User-Beitrag von Twister

"Darling?"
Die Hand noch an der Schaufel drehte ich mich um. Auch nach mehr als fünf Jahren Zusammenlebens mit Sabrina konnte ich noch immer kaum glauben, dass sie tatsächlich mit mir eine nicht nur vorübergehende Lebensabschnittsbeziehung führte oder, um es weniger blumig auszudrücken, mit mir verheiratet war. Vieles hatte sich seitdem verändert, in ihr rotes Haar hatten sich sogar schon ein paar graue Strähnchen geschlichen, die sie, uneitel wie sie war, nicht färbte. Aber Sabrina war noch immer wunderschön und ihr gehauchtes "Darling" führte noch immer dazu, dass ich je nach Jahreszeit das Einsetzen der Jungpflanzen, das Umgraben, den Kompost oder auch die Tierfütterung vergaß und stattdessen ganz andere Gedanken entwickelte.


"Darling, du solltest eine Pause einlegen."
Sabrina strahlte mich an und ich nickte, legte die Schaufel beiseite, wusch mir schnell die Hände in der Regentonne und ging dann zu dem großen Holztisch, auf dem bereits die anderen warteten und lästige Fliegen wie auch gefräßige Katzen vom Kuchen abhielten, den ich gestern gebacken hatte. Sabrina hatte zudem noch Muffins gebacken und Kaffee gekocht, so dass eine beachtliche Kaffeetafel entstanden war. Ich setzte mich und schaute in erwartungsvolle Gesichter. War mir etwas entgangen?

20 Jahre heise online

Vor 20 Jahren, am 17. April 1996 fing mit der ersten Tickermeldung eigentlich alles an: Der Newsticker legte los und damit begann die eigentliche Geschichte von heise online, der Nachrichten-Site des Heise Verlags rund um IT, Hightech und die digitale Gesellschaft. In Artikelstrecken, Hintergrundbeiträgen und Aktionen mit Usern auf heise online wollen wir die Geschichte (und die Zukunft der digitalen Gesellschaft) beleuchten - und auch Party feiern. Stay tuned: Die Online-Themenseite #20JahreHO wird alle Artikel und weiterführenden Informationen rund um "20 Jahre heise online" versammeln.

"Gestern war der 17.4.2016", sagte Pi, der auf unserem Gemeinschaftsbauernhof das linke "Gesindehaus" belegt hatte. Seine Idee war es gewesen, den alten Bauernhof zu kaufen und dann eine Art Kommune aufzumachen und wider Erwarten hatten sich viele daran beteiligt, so dass wir nun ein bunter Haufen von Ex- und Nochheisianern waren, die den Bauernhof nicht nur renoviert, sondern auch in neuem Glanz hatten erstrahlen lassen. Für die nächsten Nachbarn waren wir Verrückte, weil unsere Vogelscheuchen alle Nudelsiebe trugen, unser alter Lkw mit Pinguinen bemalt war und so manches Mal spätabends jemand loslief, um noch irgendwo Kräuter zu sammeln.

"20 Jahre…", murmelte Angie, die sich den Namen gegeben hatte, um ein wenig gegen Frau Merkel zu lästern, aber auch, um ihren ursprünglichen Namen bei Heise abzukürzen. Die meisten hatten ihre Namen abgelegt und sich neue gegeben, denn hier waren sie keine Commentatores. Doch bei den meisten, egal ob noch aktiv oder nicht, war anhand ihrer neuen Namen oder ihres Verhaltens noch bemerkbar, als wer sie kommentierten. Pi beispielsweise war jemand, dessen Desktop stets voller Lesezeichen war, manche hatten von ihm gesagt, er könne jeden mit Links erschlagen. Daher hatte er das linke Häuschen genommen. Angie war, Gerüchten zufolge, irgendwann mal in der Politik gewesen, aber genau wussten wir das nicht. Es war auch egal. Sie hatte jedenfalls wunderbare Geschichten zu erzählen, von Demonstrationen, von der Politik.

"Meine Güte, 20 Jahre."

Sour zupfte ihre momentan grünen Haare zurecht.
"Mein erster Beitrag kam 1998, das sind auch schon 18 Jahre. Nicht zu fassen."
"Das war aber nur der erste offizielle Beitrag, kommentiert hast du schon vorher, oder?"
"Stimmt." Sie lachte.
"Obwohl ich ja gar nichts mit dem Netz zu tun haben wollte, aber als ich mit meinem Gipsbein da herumsaß, wurde ich halt dann zum Netz gestoßen sozusagen."
"Und kommst nicht mehr davon weg."

Es war ein Running Gag zwischen uns, dass sie schon mehrere Male Pause gemacht hatte oder eigentlich ganz gehen wollte, aber dann doch wieder ins Forum zurückkehrte. Das letzte Mal hätte Schluss sein sollen, auch als Protest gegen die neue Forensoftware, aber dann kam es halt doch wieder anders. Ich schenkte Kaffee ein und Sabrina setzte sich zu uns. Die Zeit war an ihr nicht spurlos vorbeigegangen und auch unser Minnesänger, wie wir ihn nannten, hatte ein wenig zugelegt, schrieb aber immer noch wunderbare Gedichte wie zu jenen Zeiten, als er sie bei Heise veröffentlichte.

"Wisst ihr noch, wie sich der AK Vorrat unter anderem durch Heise gründete?"
"Oh ja – da kam zuerst Stop1984, dann der AK Vorrat, nicht wahr?" Sabrina nickte.
"Oh ja, das weiß ich noch... ach", seufzte sie. "Irgendwie sind viele Themen auch weiterhin aktuell, dabei hoffte ich so, dass sie sich erledigen würden."

Ich wusste, was sie meinte. Ob Netzsperren, die Anwendung nationaler Gesetze auf Webseiten anderer Länder, die Frage, wie weit Meinungsfreiheit gehen sollte oder könnte oder auch die "Öffnungszeiten im Web", der Bundestrojaner, das Abhören – vieles trafen wir immer und immer wieder in den Nachhrichten, dabei hatten wir alle gehofft, es würde sich vieles wirklich einmal endgültig regeln. Aber vielleicht war dies auf Dauer gar nicht möglich. Alles fließt, wie es so schön hieß.

Für uns war das Leben seit einigen Jahren jedenfalls etwas, was uns stark verändert hatte. Aus unseren ursprünglichen Gefilden waren wir sozusagen in das Abenteuer Bauernhof aufgebrochen. Etliches hatten wir Heisianern zu verdanken, angefangen von so manchem finanziellen Helferlein über Materialien wie Sämereien, Jungpflanzen, alten Gartengeräten bis hin zu Tipps und nicht zuletzt tatkräftiger Unterstützung. Und tatsächlich hatten sich sogar weitere Heisianer auf dem nächsten Bauernhof eingenistet, die allerdings keine Pinguine, sondern einen angebissenen Apfel auf ihrem Lkw prangen hatten – wir kamen trotzdem gut miteinander aus, die Flamewars führten wir jetzt nur noch als Spaß aus. Erst vor kurzem hatte uns sogar jemand aus Norwegen geschrieben und gefragt, ob wir ihm noch einen Platz anbieten könnten. "Denkt mal darüber nach!!!11" hatte er seinen Brief beendet.

Ich schrieb, genau wie Sour, mittlerweile regelmäßig für Telepolis, viele von uns arbeiteten online. Das ließ sich am besten mit der Arbeit auf dem Bauernhof verbinden und so mancher Artikel war hier am Kaffeetisch entstanden, während rundherum die Enten und Hühner ihren Lärm verbreiteten und das alte Schaf, dem wir einen Gnadenplatz gelassen hatten, den Rasen mähte.

Ja, es war anders geworden und auch wenn viele der Nachrichten bei Heise und anderswo nicht gerade positiv waren, freundlich ausgedrückt, fanden wir regelmäßig doch Schönes am Leben und verzweifelten nicht oder vergruben uns in Dystopien. Es war Zeit für Utopien geworden, hatten wir einst beschlossen und dies dann auch umgesetzt. Es war für uns daher, an diesem besonderen Tage, selbstverständlich, dass wir auch an Heise dachten, an all das Schreckliche, was dort in den Foren zu finden war, in denen sich oft Leute ohne wirklichen Grund bekriegten, ohne dass das Thema dies überhaupt hergab; an all die langen und sinnvollen und lesenswerte Beiträge wie auch die Trolle, die auf ihrer eigenen Wiese grasen durften; an all die alte und neue Forensoftware und unnötige Funktionen wie "My Stream", was doch an Facebook und Co. erinnerte; an die vielen verschiedenen Forenten und Forerpel, die vielen verschiedenen Meinungen, die in der "Community" zu finden waren und daran wie oft auch Freundschaften bei Heise entstanden waren oder sogar mehr.

"Trotzdem wird zuviel gelöscht und gesperrt…"
"Und die neue Forensoftware ist auch Mist", schimpfte DT.
"Und es gibt zu viel Werbung, und die auch noch schlecht formatiert."

Ich hörte zu, während die anderen wild darüber diskutierten, welcher der beste Artikel bei Heise gewesen war oder welcher der schlechteste. Sabrina kuschelte sich an mich und lächelte ihr strahlendstes Lächeln und ich versank mal wieder in ihren grünen Augen.
"Für mich ist Heise immer noch klasse, auch wenn es nicht mehr so wie früher ist", flüsterte sie.
Ich nickte nur. Morgen, wenn die Woche anfing, würden Sabrina und ich wieder schauen, was es Neues auf der Welt gab. Sabrina würde dies auf ihre unnachahmliche Weise kommentieren und ihre oft so naiv klingenden Fragen stellen. Wir würden unsere Artikel schreiben, fluchen, diskutieren, uns freuen, die ganzen technischen Entwicklungen verfolgen, uns über die Smombies ärgern oder über die Tabletfreaks lachen, würden schauen, was die Politik zum Thema Netzneutralität entscheidet oder zum Thema ALG II, Flüchtlinge oder Majestätsbeleidigung. Aber heute, heute würden wir feiern. Und auf weitere 20 Jahre hoffen.

"Ich hab Heise viel zu verdanken", flüsterte Sabrina, denn wir hatten uns einst durch Heise erst kennengelernt. "Und ich erst." flüsterte ich zurück. Ja, etliches war erst durch Heise und die Heisianer möglich geworden. Doch die beiden Kleinen, die gerade in ihren Pinguinpullis herumliefen und deren grüne Augen so hell strahlten wie Sabrinas… die hatten mit Heise nichts zu tun


Sicher werden sich jetzt manche fragen: "Was soll denn so ein Kitsch hier?" Und ich habe auch zunächst überlegt, wie ich meinen Gastbeitrag gestalten sollte. Am Anfang dachte ich über das übliche "Heise bedeutet mir viel weil…" nach oder eine Chronologie halt, ähnlich wie zum 15. Jubiläum von Telepolis. Und seit ich bei heise online durch Zufall landete, das war 1996, meine ich, war Heise mir ja auch steter Wegbegleiter.

Durch Heise lernte ich zahlreiche Menschen kennen, fand Interesse an der Bürgerrechtsarbeit und am Datenschutz. Zwei meiner Erwerbstätigkeiten erhielt ich unter anderem auch deshalb, weil die Arbeit"geber" mich aus dem Heiseforum kannten, ich erhielt auch so Unterstützung und auch die Verfassungsbeschwerde gegen die Onlinedurchsuchung konnte finanziell nur deshalb geschafft werden, weil auch durch die Berichterstattung bei heise online die Spenden zahlreich flossen.

Dass ich heute, da ich meine alten Tätigkeiten nicht mehr ausüben kann, überhaupt noch eine Erwerbstätigkeit habe, verdanke ich Telepolis – insbesondere haben mich da Wolf-Dieter Roth und die jetzigen Redakteure Florian Rötzer, Thomas Pany und Peter Mühlbauer, auch immer unterstützt und mir auch Mut zugesprochen, wenn die Reaktionen auf meine Beiträge mal wieder zu heftig waren.

Drei meiner Beziehungen standen in direktem Zusammenhang mit heise online und nach meinem ersten schweren Autounfall war es mein erster Mann, der mich mit Nachdruck zu seinem Rechner schubste (auf dem noch OS/2 lief) und mein Sträuben, was Computer und das Netz anging, beharrlich ignorierte und mir stattdessen die Welt der Foren und der Nachrichten im Netz vorstellte. Viele Themen habe ich erst durch Heise überhaupt mitbekommen.

Die Pausen vom Forum haben mir stets gutgetan, die Abschiede, die zu jenen Momenten ernstgemeint waren, haben mir aber letztendlich dann doch leid getan und ich habe schlichtweg auch bemerkt, dass, egal wie genervt ich manchmal auch bin von Heise, ich hier doch auch meine virtuelle Heimat verorte. Allerdings haben mich die Löschaktionen (Löschung alter Foren) und die Einführung der neuen Forensoftware doch auch sehr wütend und enttäuscht zurückgelassen da ich denke, dass hier die Community, die Heise so gerne lobt, einfach zu wenig eingebunden wurde.

Dennoch: Auch mein jetziges "neues Leben" hier in Österreich habe ich Heise zu verdanken, denn durch Heise las mein Mann nicht nur die Twister-Geschichten, er erfuhr auch, dass ich wohl obdachlos werden würde und der Rest… ist sozusagen Geschichte.

So gesehen hätte ich jetzt vieles mehr noch schreiben können, über die Themen, über die Trolle, über diejenigen, die einen durch ihre teilweise schon stark verletzenden Mails das Leben schwer machen oder sogar so weit gehen, einem Gewalt anzudrohen. Über diejenigen, die einen unermüdlich unterstützen, die gegen diese Verbalschläger angehen usw.

Aber ich denke, all dies wird sicher schon auch in anderen Gastbeiträgen behandelt werden, mir dagegen gefiel die Idee, dass es tatsächlich eine "Heisekommune" geben könnte, in der es völlig egal ist, ob Apple, Windows oder Linux genutzt wird, wo diese banalen Unterschiede, die oft zu einem Klassenkampf aufgebläht werden, völlig unwichtig sind und in der die Menschen einfach so idyllisch, wie es noch möglich ist, leben, egal wie furchtbar auch manchmal alles um einen herum ist.

Nach all den Dystopien, die ich schrieb, möchte ich diese nicht mehr schreiben, ich möchte nicht nur annehmen, dass alles schiefgeht, dass alles schlimm wird, dass wir alle verloren sind, sondern möchte einfach auch positiv in die Zukunft blicken und daran glauben, dass Utopien auch passend sind. (anw)