Tschernobyl: Vor 30 Jahren ereignete sich die AKW-Katastrophe

In den Morgenstunden des 26. April 1986 explodierte Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl in der Ukraine. Die Katastrophe forderte mindestens 41 Todesopfer. Die freigesetzte Radioaktivität ist bis heute spürbar - und ihre Auswirkungen ungeklärt.

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Vor 30 Jahren ereignete sich die Katastrophe von Tschernobyl

Der zerstörte Block 4 nach der Katastrophe

(Bild: chnpp.gov.ua)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Ralf Bülow
Inhaltsverzeichnis

Eigentlich war die falsche Entscheidung schon 1972 gefallen. Damals jedenfalls beschloss der ukrainische Energieminister Alexei Makuchin, das erste Atomkraftwerk seiner Sowjetrepublik nicht mit einem Leichtwasserreaktor der Bauart WWER auszustatten. Stattdessen erhielt es Graphitblöcke von 14 Metern Durchmesser und 8 Metern Höhe. In ihnen steckten Uran-Brennelemente, so wie es der russische AKW-Papst Anatoli Alexandrow bevorzugte. Der Graphit bremst die Neutronen an, die aus dem Uran fliegen, und ermöglicht die nukleare Kettenreaktion.

Tschernobyl - 30 Jahre nach der AKW-Katastrophe

1977 ging der erste Block des Kraftwerks Tschernobyl in Dienst, zwei weitere folgten 1978 und 1981. Nummer 4 produzierte ab dem 20. Dezember 1983 Strom. Die Reaktoren der 2. Generation des Typs RBMK-1000 lieferten im Vollbetrieb 3200 Megawatt thermischer Leistung. Die Brennstäbe mit dem Uran-Isotop U 235 befanden sich in 1661 senkrechten Druckröhren und wurden durch normales Wasser gekühlt. Der dabei entstehende Dampf trieb die Turbinen des Kraftwerks an. Einen Reaktorcontainer gab es nicht, verbrauchte Brennelemente konnten im Betrieb gegen frische ausgetauscht werden. Geregelt wurde ein Reaktorblock durch Stäbe mit Neutronen absorbierendem Borcarbid, die ins Graphit hinein- oder herausfuhren. Ein charakteristisches Merkmal des RBMK-1000 war der positive sogenannte Voidkoeffizient. Eine übermäßige Dampfbildung im Kühlwasser oder ein Wasserverlust steigerte also dessen Leistung – der Reaktor war inhärent unsicher.

Für Ende April 1986 plante die Kraftwerksleitung dann Wartungsarbeiten an Block 4. Die Ingenieure des Atomkraftwerks wollten diese Abschaltung des Blocks für einen schon lange überfälligen Test nutzen: Kann man einer Turbine, die auch den Generator für die Motoren der Kühlwasserpumpen antreibt, den Dampf absperren? Reicht danach die Rotationsenergie von Turbine und Generator aus, um bis zum Anspringen des Notstromaggregats genug Elektrizität für die Pumpen zu erzeugen?

Die Stilllegung des Blocks begann am Freitag, dem 25. April 1986, um 1 Uhr nachts Ortszeit. Zwölf Stunden später lief der Reaktor noch mit halber Kraft – 1600 Megawatt – und eine der beiden Turbinen stoppte. Das weitere Herunterfahren der Anlage wurde jedoch um 14 Uhr unterbrochen, da die Lastverteilerstation in Kiew Strom benötigte. Erst 23:10 Uhr machten die Ingenieure weiter und schalteten unter anderem das Notkühlsystem des Reaktors ab, bevor um Mitternacht die Techniker der Nachtschicht eintrafen. Um 0:05 Uhr am 26. April lieferte der Block noch 700 Megawatt. In den Brennelementen hatte sich das Isotop Xenon-135 gebildet, das Neutronen schluckt. Dadurch und aufgrund eines Bedienungsfehlers stürzte die Leistung gegen 0:30 Uhr auf 30 Megawatt ab. Die Ingenieure zogen Regelstäbe aus dem Graphit, um die Kettenreaktion voranzutreiben: Nach einer Weile produzierte der Block wieder 200 Megawatt und um 0.43 Uhr wurde der automatische Notstopp deaktiviert. 20 Minuten später schaltete das Bedienpersonal weitere Kühlwasserpumpen ein.

Die Katastrophe von Tschernobyl (7 Bilder)

Der zerstörte Reaktorblock 4
(Bild: chnpp.gov.ua)

Der eigentliche Test von Block 4 begann exakt 1:23:04 Uhr. Die Dampfzufuhr für die noch aktive Turbine wurde unterbrochen. Sofort stiegen die Temperatur des Kühlwassers und die Dampfbildung an. Durch den Voideffekt nahm die Reaktorleistung deshalb dramatisch zu, weswegen ein Ingenieur im Kontrollraum um 1:23:40 Uhr manuell die Notabschaltung in Gang setzte. Etwa 200 aus dem Graphitblock herausgezogene Steuerstäbe senkten sich wieder. Sie hätten 20 Sekunden gebraucht, um an ihre Plätze zu gelangen. Stattdessen wirkte sich aber ein Konstruktionsfehler der Stäbe aus, der den Technikern vermutlich nicht bewusst war: Unter dem 7 Meter langen Borcarbid-Abschnitt zum Bremsen der Kettenreaktion saß ein 4,5 Meter langes Graphitstück. Wurde ein Stab hochgezogen blieb es in seiner Röhre im Reaktorblock; das Wasser in der Röhre beeinflusste den Neutronenfluss nur wenig. Senkte sich der Stab dann aber wieder, verdrängte die Graphitspitze das Wasser im unteren Bereich des Blocks. Die Folge: Neutronen wurden dort verlangsamt und förderten die Kettenreaktion.

Die gleichzeitig einfahrenden Bremsstäbe um 1:23:40 Uhr trieben den Reaktor in drei Sekunden auf 530 Megawatt und setzten seine Zerstörung in Gang. Die Bremsstäbe verhakten sich, die Temperatur stieg noch weiter an, das Kühlwasser verdampfte und die Kapseln der Brennelemente brachen. Die thermische Leistung erreichte unglaubliche 33.000 Megawatt, und um 1:23:44 Uhr sprengten zwei Explosionen die Reaktorhalle. Unmittelbar darauf geriet der Graphit von Block 4 in Brand. Schon um 1:28 Uhr war die Werksfeuerwehr zur Stelle, wenige Minuten später auch die Brigade aus Pripyat, der 1970 gegründeten Stadt in der Nachbarschaft des Kraftwerks. Um 3:30 Uhr trafen Feuerwehrleute aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew ein. Morgens um halb sieben waren die oberirdischen Brände gelöscht. Die zahlreichen Brandstellen und kleineren Kernschmelzen in der Tiefe des Reaktors glühten bis zum 10. Mai 1986 weiter. Fotos und Filme von Hubschraubern, die Substanzen zum Ersticken des Atomfeuers abwarfen, sollten um die Welt gehen.

Die Sperrzone in der Umgebung von Tschernobyl

(Bild: Luxo, Devil m25, Enricopedia, CC BY-SA 2.5 )

Am Sonntag, dem 27. April 1986, wurden ab 14 Uhr die 53.000 Bewohner der Stadt Pripyat evakuiert. Faktisch handelte es sich dabei um eine sofortige Umsiedlung ohne Rückkehrmöglichkeit. Am 2. Mai ordnete eine Regierungskommission die bis heute bestehende Sperrzone um das Kraftwerk an, einen Kreis mit einem Radius von 30 Kilometern. Das Kraftwerk selbst arbeitete aber trotzdem weiter – Reaktorblock 2 wurde dann 1991 nach einem Brand in der Turbinenhalle stillgelegt, Block 1 ging 1996 vom Netz, Block 3 erst im Jahr 2000.

Am Morgen des 28. April 1986 schlugen dann Sensoren im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark Alarm; die Ursache waren radioaktive Luftmassen aus der UdSSR. Abends um 19 Uhr berichtete der Südwestfunk davon und zur selben Zeit ging die erste Meldung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS über den Ticker, die Tschernobyl erwähnte. Die Tagesschau griff die TASS-Meldung auf, wobei sie den Ortsnamen unterschlug. Ab Dienstag gab es aber eine Flut von Nachrichten, und der GAU von Tschernobyl wurde global bekannt.

Tschernobyl heute (13 Bilder)

30 Jahre nach der Katastrophe leben auch auch in der verstrahlten Sperrzone noch immer Menschen.
(Bild: Heiko Roith)

Durch die Reaktorexplosion, Verstrahlung bei den Löscharbeiten und bei einem Helikopterabsturz starben insgesamt 41 Menschen. Eine ganz andere Gefahr stellten jedoch die Isotope aus dem zerstörten Reaktor dar, die sich über Europa ausbreiteten, an erster Stelle Caesium-137. Erste Schätzungen nahmen allein für Weißrussland rund 7000 Fälle von Tschernobyl-induziertem Schilddrüsenkrebs an. Eine aktuelle Aufschlüsselung liefert ein Bericht der Ärztevereinigung IPPNW Deutschland.

Die neue Schutzhülle im Bau

(Bild: Tim Porter, CC BY-SA 4.0 )

30 Jahre nach der Katastrophe sind deren Spuren immer noch bemerkbar, unter anderem auch in Süddeutschland, wo das Caesium seinerzeit auf Fauna und Flora abregnete. Wildschweinfleisch aus dem Schwarzwald etwa ist teils noch deutlich mit Caesium-137 belastet. Dieses ist besonders betroffen wegen der Vorliebe der Wildschweine für den Hirschtrüffel, der Caesium aus dem Waldboden anreichert.

In Tschernobyl baut derweil ein französisches Konsortium ein elegantes New Safe Confinement, das den 1986 im AKW installierten Sarkophag überdachen soll. Den Baufortschritt können Interessierte online verfolgen, genauso übrigens wie das Leben der Tierwelt, die inzwischen in der Sperrzone lebt und sich nicht um radioaktive Grenzwerte schert.

Lesen Sie dazu auch die Pro- und Contra-Argumente der Kollegen:

(mho)