Bauchspeicheldrüse, selbstgebastelt

Manchen Diabetikern reichen die Angebote der kommerziellen Anbieter nicht aus: Sie knacken Medizintechnik und haben damit ein System geschaffen, mit dem sich der Blutzuckerspiegel automatisch regulieren lässt.

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Von
  • Sascha Mattke

Ungefähr 50 Diabetiker weltweit benutzen derzeit ein System, das man etwas abenteuerlich finden könnte: Es misst kontinuierlich ihren Blutzuckerspiegel und passt auf dieser Grundlage die Dosierung einer Pumpe an, die durch eine Kanüle im Bauch Insulin in ihren Körper befördert. Gesteuert wird all das aber nicht über zertifizierte Medizin-Software, sondern über selbst programmierte, und auch die Hardware ist zusammengestückelt. Dafür ist alles Open Source. Beim Projekt Open APS lassen sich Referenz-Designs und Programmcode-Beispiele frei herunterladen.

Dass Menschen nicht davor zurückschrecken, sich einen lebenswichtigen Wirkstoff, bei dem Falschdosierungen schwerste Folgen haben können, mit einem selbstgebastelten System zu verabreichen, zeigt Zweierlei: Erstens, dass der Leidensdruck bei Diabetikern hoch ist. Und zweitens, dass technische Neuerungen ihr Leben deutlich erleichtern können – und weil deren behördliche Zulassung im Medizinbereich lange dauert, greifen einige Betroffene zur Selbstbau-Hilfe.

„Wir treffen täglich circa 20-Mal die Entscheidung über Leben und Tod“, heißt es auf der Website des Start-ups MySugr, das eine App zum Führen eines Diabetes-Tagebuches anbietet. Das ist drastisch formuliert. Aber tatsächlich müssen Diabetiker ständig überlegen, was sie essen und wie viel Insulin sie sich wann spritzen – ansonsten drohen Über- oder Unterzuckerung, die im Extremfall beide tödlich enden können.

Betroffen von der Erkrankung sind weltweit 400 Millionen Menschen, von denen allerdings die meisten unter Diabetes Typ 2 leiden; diese Variante lässt sich häufig mit besserer Ernährung und mehr Bewegung oder mit Tabletten bekämpfen, nur bei schweren Fällen werden auch Insulinspritzen gebraucht. Der seltenere Typ 1 dagegen bedeutet noch immer: lebenslang mehrmals täglich messen und spritzen. Er betrifft weltweit etwa 40 Millionen Menschen, davon 300.000 in Deutschland.

Technischer Fortschritt hat Diabetikern den Umgang mit ihrer Krankheit durchaus schon leichter gemacht. So gibt es heute Insulinpumpen, bei denen ständig eine gesicherte Nadel im Körper steckt, so das Insulin kontinuierlich statt stoßweise abgegeben werden kann. Ebenso kontinuierlich arbeiten elektronische Glukosemessgeräte, die Betroffenen den früher nötigen regelmäßigen Bluttest-Pikser in den Finger ersparen. Doch beides wird nicht immer von den Krankenkassen bezahlt, und vor allem gibt es noch kein kommerzielles System, das die beiden Technologien so konsequent zusammenführt wie Open APS.

Den Anfang dieser Bewegung bildete wohl die Entscheidung des US-Softwareentwicklers John Costik im Jahr 2012, ein wenig am Glukosemessgerät für seinen vierjährigen Sohn herumzuspielen. Das Gerät zeichnete die Daten zwar auf, war aber nicht vernetzt, und Costik wollte auch informiert sein, wenn er nicht in der Nähe seines Kindes ist. Also schrieb er Software, mit der sich die Daten aus dem Messgerät auslesen und ins Internet stellen lassen.

Mehrere andere Techniker sprangen darauf an und steuerten eigene Ideen und Software-Elemente bei. Auf die nächste Stufe gehoben wurde das Projekt dann von Dana Lewis, einer an Typ-1-Diabetes leidenden Spezialistin für digitale Kommunikation, und ihrem heutigen Ehemann Scott Leibrand, Netzwerktechniker bei Twitter: Daten vom Glukose-Messgerät werden auf einen Minicomputer vom Typ Raspberry Pi geschickt, auf dem ein Algorithmus die dazu passende Insulin-Dosierung bestimmt; über einen angeschlossenen Bluetooth-Funkstick geht diese Anweisung dann an die Pumpe.

Bis Lewis dem Algorithmus so weit vertraute, ließ sie ihn zunächst ein Jahr lang nur Empfehlungen geben, die sie anhand ihrer eigenen Erfahrungen überprüfte. An seinem Hochzeitstag, dem 1. August, beschloss das Paar, dem System die Kontrolle zu überlassen – und „nach dem ersten Live-Test haben wir es einfach weiter laufen lassen“, wie Leibrand erzählt.

Damit war die wohl erste – selbstgebastelte – künstliche Bauchspeicheldrüse der Welt im Dauereinsatz (das APS in Open APS steht für Artificial Pancreas System). Im Februar 2015 stellten Lewis und Leibrand die Pläne dafür online. Weil sonst Ärger mit der US-Medizinbehörde FDA drohen würde, müssen sich Interessierte allerdings trotzdem tief in das Thema einarbeiten und einen guten Teil der Programmierarbeit selber leisten – was angesichts der Gefahren möglicher Fehlfunktionen vielleicht gar nicht schlecht ist.

In einem deutschsprachigen Forum melden sich zwei Teilnehmer zu Wort, die sich mit Hilfe vom Open APS schon eigene künstliche Bauchspeicheldrüsen gebaut haben wollen. Insgesamt aber, sagt der Diabetes-Blogger Finn Köster, sei das wohl vor allem eine amerikanische Angelegenheit: „Es gibt da einfach eine aktivere Kultur des Machens und der Zusammenarbeit.“

Auch die Medizintechnikbranche bleibt angesichts des hohen Interesses von Diabetikern an neuer Technik nicht untätig. In Europa ist bereits die Insulinpumpe MiniMed 640G des Marktführers Medtronic zugelassen, die bei zu niedrigem Blutzuckerspiegel automatisch die Insulinzufuhr verringert; eine neuere Variante soll bei zu hohem Spiegel bald auch mehr Insulin geben können. Die privaten Hacker aber sind einen Schritt weiter: Laut Köster arbeiten sie schon an Systemen, die nicht nur mehr oder weniger Insulin abgeben können, sondern bei zu niedrigem Blutzuckerspiegel auch Glucagon, das genau entgegengesetzt wirkt.

„Bis so etwas kommerziell auf dem Markt ist, wird es bestimmt noch fünf oder zehn Jahre dauern“, sagt Köster, selbst Diabetiker. Er selbst würde, wie er sagt, eher nicht zu einer Bastellösung greifen, zumal solche ganz automatischen Systeme vor allem von besorgten Eltern für ihre diabetischen Kinder entwickelt würden. Trotzdem sei er froh über die Bemühungen der Pumpen-Hacker, denn „die zeigen der Industrie, was alles geht.“

(sma)