Kommentar: Bullshit-Bingo auf dem Arbeitsmarkt

Die Industrie steckt viel Geld in interessengeleitete Studien zur Beschäftigungsentwicklung. Das Schauen in die Glaskugel sollte sich die Wirtschaft lieber sparen und stattdessen in Aus- und Weiterbildung investieren, findet Jürgen Diercks.

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Arbeit am Computer
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Von
  • Jürgen Diercks

Wer in einer Redaktion arbeitet, bekommt jede Woche mindestens eine Pressemitteilung, die auf eine Studie verweist, die etwas vermeintlich Bahnbrechendes herausgefunden haben will. Meist geben sich solche Untersuchungen einen wissenschaftlichen Anstrich, alles deutet darauf hin, dass hier seriöse Wissenschaftler am Werk waren. Wie kann es dann sein, dass sich die Ergebnisse solcher Elaborate gelegentlich eindeutig widersprechen oder mit der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung kaum etwas zu tun haben?

Beispiel Fachkräftemangel: Jede Meldung, auch auf diesem Ticker, die auch nur hauchzart den Anschein erweckt, einen Engpass bei den qualifizierten Arbeitskräften festzustellen, stößt im Forum auf erbitterten Widerstand. Meist zu Recht. Denn wenn beispielsweise der Bitkom oder ein anderer Industrieverband eine Presseinformation zum Thema herausgibt, sind handfeste Interessen im Spiel. Mit Statistik lässt sich bekanntlich alles beweisen.

Ein Kommentar von Jürgen Diercks

Jürgen Diercks schreibt seit 1992 für die iX. Er interessiert sich besonders dafür, wie Informationstechnik gesellschaftliche Prozesse verändert.

Gelegentlich schüren Lobbyverbände und Politik eine regelrechte Panik, wenn es um den Arbeitsmarkt geht. Da wird munter mindestens der Untergang der deutschen Wirtschaft wenn nicht gar des Abendlandes beschworen. Schuld sind wahlweise oder in Personalunion die Demographie ("die Deutschen sterben aus!") und das Bildungssystem, das nicht in ausreichender Menge auf die Bedürfnisse der Wirtschaft getrimmte Absolventen ausspuckt.

Denn viele Universitäten bieten geisteswissenschaftliche Studiengänge an, die sich nur schwer kommerziell verwerten lassen. Solche unproduktive Beschäftigung gehört nach Ansicht vieler Politiker und Wirtschaftslenker abgeschafft, der Markt kann schließlich alles richten. Kein Witz, darüber wird ernsthaft nachgedacht und leider auch entsprechend gehandelt. Die Protagonisten solcher Geisteshaltungen übersehen dabei gern, dass reine Wirtschaftskraft ohne Soft Power, also kulturelles Beiwerk, nicht viel bewegt in der Welt.

Das Prinzip ist alt: Mit Angstmacherei ließen sich politische Ziele schon immer am besten durchsetzen. Dazu gehören in diesem Zusammenhang die grenzenlose Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, der Niedriglohnsektor, die Rente mit 70, Leiharbeit und ganz allgemein die Vorfahrt der Wirtschaft vor allem anderen, was die Allgemeinheit eventuell auch noch bewegen könnte. Schon die Bibel wusste, dass der Mensch nicht nur vom Brot allein lebt.

Mit Digitalisierung und Industrie 4.0, der neuesten Spielwiese für Umfrageinstitute, verhält es sich nicht anders. Je nach konsultierter Studie schafft die sogenannte vierte industrielle Revolution, die verdächtig nach Marketingphrase riecht, viele neue Jobs oder zerstört den Arbeitsmarkt durch die flächendeckende Machtübernahme der Maschinen komplett. Derartige Ängste sind nicht neu, es gab sie schon Anfang der 1980er-Jahre, als das Thema Rationalisierung durch IT das erste Mal hochkochte. Keines der Horrorszenarien ist eingetroffen. Im Gegenteil: Die elektronische Datenverarbeitung (EDV), wie sie damals noch hieß, entpuppte sich als eine der größten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aller Zeiten, der IT-Sektor ist hierzulande inzwischen der zweitgrößte industrielle Arbeitgeber.

Unterm Strich ist die Lage trotzt aller Hysterie nicht gänzlich hoffnungslos: Für das Beheben des Fachkräftemangels hat man die Frauen, die gefälligst MINT-Fächer studieren sollen, sowie hochqualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland auserkoren. Und – neuerdings – die Flüchtlinge, die ja bekanntermaßen vor allem deswegen fliehen, um uns bei unseren Luxusproblemen beizustehen. Mein Vorschlag an die Unternehmen: Weniger Geld- und Energie in fragwürdige Studien stecken, dafür die Angestellten anständig bezahlen und selbst aus- oder weiterbilden, wenn ein Bewerber mal nicht zu hundert Prozent auf eine ausgeschriebene Stelle passt. (axk)