XTech 2016: Neurowissenschaften und Computertechnik jenseits des Silicon Snake Oil

Zum vierten Mal fand in San Francisco die Experiental Technology & NeuroGaming Conference statt. Hier diskutierten Mediziner und Forscher mit Hard- und Software-Entwicklern zwei Tage lang darüber, wie der Einsatz von Computertechnik in den Neurowissenschaften dabei helfen kann, mentale und körperliche Höchstleistungen zu erreichen, effektiver zu lernen und Krankheiten zu kurieren.

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XTech 2016: Neurowissenschaften und Computertechnik jenseits des Silicon Snake Oil

(Bild: Roland Austinat)

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Von
  • Roland Austinat
Inhaltsverzeichnis

Wer bei Erlebnistechnologie an Wünschelruten und Magnetarmbänder denkt, ist schief gewickelt. Auf der Experiental Technology & NeuroGaming Conference 2016 in San Francisco ging es in dieser Woche um belegbare Resultate. Denn ohne die würden zahlreiche der 500 größten US-Firmen, Profi-Sportler und das US-Militär keinen müden Dollar in diesen Bereich investieren.

Zu den Forschungsgebieten, die im Mittelpunkt der XTech 2016 standen, gehörten leistungssteigernde Methoden für Sportler, technikgestützte Rekonvaleszenz nach Schlaganfällen, die Vorhersage von epileptischen Anfällen, aber auch alltäglichere Gesundheitsprobleme wie Vergesslichkeit, verminderter Aufmerksamkeit und emotionaler Stabilität.

All diese Bereiche melden nicht zuletzt durch immer leistungsfähigere Computer teils erhebliche Fortschritte."Dafür können wir uns bei Computer- und Videospielen bedanken", sagte James Blaha, CEO von Vivid Vision. Ihm gelang es, seine Amblyopie mit einem VR-Headset zu korrigieren – und deshalb gründete er seine Firma, um daraus ein Therapieverfahren zu entwickeln. Investor Tipatat Chennavasin vom Venture Reality Fund gelang es nach eigenen Angaben beinahe nebenbei, mit VR-Anwendungen seine Höhenangst zu kurieren.

XTech 2016 (5 Bilder)

Dr. David Eagleman entwickelte mit seinem Team eine Weste, die Sprache in Vibrationen umsetzt. Nach nur vier Tagen Training konnten komplett taube Menschen die Wörter verstehen und auf eine Wandtafel schreiben, die ein Mitarbeiter zuvor in ein an die Weste angeschlossenes Mikrofon gesprochen hatte.
(Bild: Roland Austinat)

Dr. David Eagleman von der Baylor University entwickelte mit seinem Team eine Weste, die Sprache in Vibrationen umsetzt. "Schlangen können Wärme, Fische Elektrizität, Tauben das Magnetfeld der Erde wahrnehmen - aber alle nutzen ein gleich aufgebautes Gehirn", so Eagleman. "Unser Gehirn ist sehr gut darin, Informationen aus elektrischen Impulsen zu beziehen und sie zu interpretieren – woher diese Informationen kommen, ist ihm egal." Seine Experimente geben ihm recht: Nach nur vier Tagen Training konnten komplett taube Menschen die Wörter verstehen und auf eine Wandtafel schreiben, die ein Mitarbeiter zuvor in ein an die Weste angeschlossenes Mikrofon gesprochen hatte.

Gleichzeitig warnen Kollegen wie Dr. Tom Insel, Director Clinical Neuroscience bei Verily, dass nicht alle medizinischen Fachbereiche über Nacht mit Hilfe der Technik Durchbrüche feiern werden. "Als Psychiater habe ich drei Generationen von Medikamenten und viele andere Heilsbringer kommen und gehen sehen", sagte Insel. "Doch wenn wir uns beispielsweise die Selbstmordrate ansehen, hat sich daran nichts geändert – deswegen wäre es verantwortungslos, zu sagen, dass eine Smartphone-App die Rettung ist."

Was ist die größte Furcht der meisten Menschen? Die Angst vor dem Tod? Mitnichten: Die Vorstellung, eine Rede vor Publikum halten zu müssen, sorgt bei noch mehr Leuten für schweißnasse Hände. Hier will das russische Start-up Cerevrum mit "Speech Center VR" Abhilfe schaffen, derzeit für GearVR in Arbeit. In dieser App geht es an über 30 Orte, darunter ein großer Hörsaal, eine Hochzeitsrunde, ein Restaurant, ein Besprechungsraum und den Pressekonferenzraum des Weißen Hauses. "Die Flaggen an der Wand lassen sich aber beliebig verändern", lacht Entwicklern Olga Peshé.

Wir finden uns in im Hörsaal wieder und lernen von einem Coach, uns beim Vortrag auf einige wenige Zuhörer zu konzentrieren und so zu tun, als würden wir uns mit ihnen in einem Café unterhalten. Sinnvoll auch, etwas früher den Raum aufzusuchen und mit den Blicken abzumessen. Manchen Rednern hilft es, sich wie ein Riese vorzustellen – prompt saust unser VR-Blickwinkel nach oben, von wo aus wir auf die nun spielzeuggroßen Hörer herabblicken. Andere setzen darauf, sich das Publikum in Unterwäsche vorzustellen - nicht nackt, schließlich befinden wir uns in den tendenziell prüden USA. Doch selbst hier prangt ein großer "Zensiert"-Balken über dem Auditorium.

Das Trainingsprogramm soll bald darauf reagieren, wenn man nur starr nach vorne blickt oder die Augen zu fahrig über das Publikum schweifen lässt. "Wir arbeiten außerdem an KI-Charakteren, die einem etwa bei einem Bewerbungsgespräch gegenübersitzen und dann auf einen reagieren", erklärt Olga Peshé. Ganz Mutige laden ihre Freunde in ihren Vortrag ein, ohne sich von diesen ablenken zu lassen. Was vielleicht für manche etwas albern klingt, ist für jemanden, der an Redeangst leidet, möglicherweise der Weg zur Heilung.

Auch beim Lernen und in der Ausbildung setzen immer mehr Schulen und Unternehmen auf technologische Unterstützung. So berichtete Amy Kruse, CTP bei Cubic Global Defense, dass die US-Navy für einen neuen Schiffstypen keine Simulatoren mehr baut: "Das Training findet ausschließlich in VR statt. Und weil die Simulation in der Unreal Engine 4 geschrieben wurde, lassen sich leicht zusätzliche Sensoren einbauen."

Sam Glassenbergs Firma GTX Surgery arbeitet derzeit noch im Verborgenen an einem Programm für Chirurgen. Die können zwar schon heute in Simulationszentren seltene Operationen üben, doch diese Zentren sind aufgrund ihrer hohen Kosten alles andere als weitverbreitet. "Wenn mein Vater eine OP simulieren will, muss er zwei Stunden in jede Richtung mit dem Auto fahren", sagt Glassenberg. "Das ist so, als würde man sich mit einem Sack voll Kleingeld in den Bus setzen, um in einem anderen Stadtteil in einer Spielhalle Pac-Man zu spielen - das macht heute kein Mensch mehr."

Dass auch in Schulen spielerisches, technologiegestütztes Lernen immer mehr zum Einsatz kommt, ist für Glassenberg ausgemachte Sache, jedenfalls, wenn es um die Akzeptanz von Eltern und Großeltern geht: "Inzwischen spielen mehr Frauen über 18 Computer- und Videospiele als Jungen unter 18 Jahren. Jeweils 50 Prozent Männer und Frauen spielen, genauso wie ein Drittel aller Menschen über 55." (hag)