Träume und Tränen – Seifenopern im Internet
Ganz nach dem Motto "Konvergenz statt Konkurrenz" suchen die etablierten Fernsehsender mit Web-Soaps den Anschluss an den Internet-Markt.
Miguel de Sevilla hört, sieht und weiß alles. Und er erzählt es liebend gern weiter. Wer in seinem Friseursalon vorbeischaut, erfährt von jedem Gerücht, das in der Heldenfußallee kursiert. Ob ein Toter im Park oder das Attentat auf der Berlinale - der schwarz gelockte Friseur lässt den Internet-User wissen, um was es geht: Heldenfußallee ist die erste deutsche Internet-Soap, seit Oktober 1996 im Web. Mittlerweile haben auch Firmen und Fernsehsender die virtuelle Seifenoper für sich entdeckt und nutzen die Möglichkeiten des Internet auf ganz verschiedene Weise.
Die Heldenfußallee-Macher bekamen die Idee für eine Web-Soap damals aus den USA. Bald waren die Figuren gezeichnet: Die platinblonde Sexgöttin Sugar, das männermordende Monster Curella und der gute Geist der Web-Allee, Polizeihauptmeister Lalü. "Uns hat das einfach Spaß gemacht", erinnert sich Anja Gieselmann aus Oldenburg, eine der Autorinnen. Heute läuft die Heldenfußallee in Wiederholungen.
Als Hobby betreibt auch Norbert Mader aus Bochum seine Ruhrpott-Soap unter "www.kabulske.de". Kalle Kabulske wohnt in Glabotki zwischen Essen und Oberhausen und ist laut Mader "ein klassischer Ruhri: offen, locker und direkt". Seit Oktober 1997 lässt Bierbauch-Kalle in etlichen Comics seine Sprüche los. "Watt is gezz, Kalle?", keift Ehefrau Hildchen und schmeißt den trägen Glabotker aus der Hängematte. Software-Experte Mader bekommt viel positive Resonanz: "Wie bei Muttern", freuen sich die Kabulske-Fans.
Keine Comic-Figuren, sondern vier richtige Menschen wohnen seit Anfang 2000 in der Internet-WG unter "www.e-soap.de". A la Bravo-Foto-Lovestory erscheint jeden Mittwoch eine Fortsetzung des WG-Alltags. Die Story ist fiktiv, angefangen von den Durchschnitt-Twens bis zu einem Schaf als Haustier und dem finnischen Untermieter, der Gen-Tomaten klont. "Eher eine Soap-Satire", meint Sören Eberhardt, der die WG-Soap für die Internetagentur teamnet in Paderborn schreibt.
Die Diary Entertainment GmbH in Leverkusen setzt dagegen aufs Reality-Format. Seit Oktober 1999 stellen Tagebuchschreiber aus verschiedenen Städten Deutschlands mindestens viermal pro Woche unter "www.diary.de" ihre Erlebnisse, Gedanken und Gefühle samt Fotos ins Netz. So gesteht Sascha, dass er sich seit seiner Kindheit nichts sehnlicher wünscht als einen Hund. Despina beichtet, sie sei müde und enttäuscht, und Marco erzählt von einer "plötzlichen Form der Darmgrippe", stellt aber fest: "Auf dem Klo hat man so richtig Zeit zum Nachdenken."
Auch Diary-Sprecher Tobias Tietje hat als Autor angefangen: "Man muss eine gewisse Profilneurose haben und sehr offenherzig sein." Die User können ihren Stars E-Mails schreiben oder sich sogar mit ihnen treffen. "Das kann zur Folge haben, dass ein Mädchen schreibt, sie könne sich dich als Vater ihrer Kinder vorstellen", erinnert sich Tietje lachend. Mit 300.000 Seitenabrufen monatlich kommt die Reallife-Soap von "Menschen wie du und ich" offenbar an.
Über hohe Nutzerzahlen freut sich auch T-Online. Seit der ersten Folge von "www.90sechzig90.de" im September 2000 bewegt sich die Zahl der Page-Impressions im siebenstelligen Bereich, so Götz Lachmann, Pressesprecher von T-Online in Darmstadt. Inhaltlich dreht sich alles um den Alltag in "Tinas Modelagentur": Küsse oder Trennungen, Träume oder Tränen – der User entscheidet per Abstimmung, wie es weiter geht.
"Interaktives Entertainment ist der Zukunftsmarkt", ist sich Lutz Golsch, Sprecher der Berliner United Visions Entertainment, sicher. Deshalb gibt es bei 90sechzig90, von seiner Firma produziert, neben bewegten Bildern auch Chats, Interviews und Gewinnspiele. "Das ist ja der Reiz des Internet gegenüber dem Fernsehen: Der User kann selbst Einfluss nehmen und mitmachen", so Golsch. "Das Internet löst deshalb das Fernsehen trotzdem nicht ab", glaubt Ulrich Reinhardt vom Freizeitforschungsinstitut der British American Tobacco in Hamburg.
Konvergenz statt Konkurrenz – darauf hoffen auch Sender wie RTL und das ZDF. Seit Anfang November dreht sich unter "www.zwischendenstunden.de" alles um das Treiben in den Unterrichtspausen an einer Berliner Gesamtschule. Herzstück der RTL-Internet-Soap sind kurze Videostreams, die heruntergeladen werden können. Dreimal pro Woche erscheint eine neue Folge. Da geht es zum Beispiel um die Affäre zwischen Schulproll Frank und Direktorstöchterchen Dagmar.
Interaktivität steht auch hier obenan: E-Mails der Protagonisten oder die so genannten "stummen Beobachter" wie der Toilettenspiegel und der Getränkeautomat geben weiteren Aufschluss. Peter Jebsen, bei RTL in Potsdam für die kreative Leitung der Internet-Soap zuständig, sieht darin "eine Übertragung des Big- Brother-Gedankens: Der Zuschauer weiß mehr als die Darsteller."
Eine Start-up-Agentur steht im Mittelpunkt der ZDF-Web-Soap "www.etagezwo.de". Da verkauft zum Beispiel Josh Web-Illustrationen, und Anna liefert in ihrer Seitensprung-Agentur das Alibi gleich mit. "Bei dem Projekt geht es darum, das ZDF auch in der Gemeinde der Internet-User bekannt zu machen", so Thomas Hagedorn, ZDF-Pressesprecher in Mainz. Deshalb ist die Web-Soap auch im Fernsehprogramm präsent, am späten Montagabend sogar mit einem eigenen zehnminütigen Sendeplatz. Bereits in den ersten drei Tagen verzeichnete der Sender knapp drei Millionen Zugriffe im Netz.
Für die Fernsehsender sind die Web-Soaps ein Mittel, den Anschluss an den Internet-Markt nicht zu verpassen. "Die Breitbandtechnologie, die eine bessere Qualität der noch ruckeligen Videos im Netz ermöglicht, rückt in greifbare Nähe", so United-Visions-Sprecher Golsch. "Die Verschmelzung von Internet und Fernsehen ist abzusehen." Und dann ist es wichtig, bereits einen Fuß in der Tür zu haben. ( Christina Bachmann, gms) / (wst)