Das Woodstock der Biohacker
Beim "International Genetically Engineered Machine"-Wettbewerb in Boston bauen Biotechnologen Lebewesen zusammen wie Legosteine. Jeder kann teilnehmen – und ziemlich futuristische Organismen begutachten.
- Sascha Karberg
Insekten essen im afrikanischen Livingstone, allein am Nordpol bei minus 40 Grad Celsius – Urlaub, sagt man, erweitert den Horizont. Aber es gibt eine Reise, die noch über diesen Horizont hinausgeht und in eine Welt führt, die es natürlicherweise eigentlich gar nicht gibt. Hier entstehen Bakterien, die den Mars bewohnbar machen sollen, Hefen, die Bier außer nach Hopfen und Malz auch nach Zitrone schmecken oder fluoreszieren lassen.
Es werden Bakterien mit Minimagneten ausgestattet, damit sie nach Belieben gesteuert werden können, oder so programmiert, dass man mit ihnen eine Biovariante des Computerspiels "Minesweeper" spielen kann. Oder – viel wichtiger – es werden Bakterien kreiert, die den käsigen Geruch von Schweißfüßen in Bananenduft umwandeln. Der Eingang zu dieser mitunter skurrilen, manchmal irritierenden, aber immer fantastischen Welt liegt in Boston. Seit 2004 findet hier das Finale des "International Genetically Engineered Machine"-Wettbewerbs statt, kurz iGEM.
Zuvor versuchen Studententeams sechs Monate lang, einen lebenden Organismus gentechnisch so umzuprogrammieren, dass er tut, was sie wollen. Dann reisen sie aus allen Teilen der Welt – sogar aus Indonesien, Kasachstan oder Ägypten – nach Boston und präsentieren ihre Ergebnisse. Es ist, wenn man so will, das Woodstock der Biohacker. Das Finale zeigt, wie weit man kommt, wenn man die Bausteine des Lebens als Lego begreift. Nicht umsonst ist der Hauptpreis ein "Biobrick" – ein goldfarbener schuhkartongroßer Legostein, Symbol für die standardisierten Genbausteine, mit denen die synthetische Biologie das Leben neu zusammenstecken will. "Dieses Jahr loben wir einen neuen Preis aus für Projekte, die sich mit der Veränderung von Pflanzen beschäftigen", sagt Randy Rettberg, Chef der iGEM-Organisation.
Tausende von Projekten haben die iGEM-Teams mittlerweile verfolgt, seit der Wettbewerb am Massachusetts Institute of Technology vor zwölf Jahren ins Leben gerufen wurde. Inzwischen stürzen sich so viele Teams von Universitäten aus aller Welt in die gentechnische Bastelarbeit, dass iGEM zu einer eigenen, vom MIT unabhängigen Organisation herangewachsen ist. Selbst der größte MIT-Hörsaal reichte nicht mehr aus, um alle Teams am Finale in Boston, der "Giant Jamboree", teilhaben lassen zu können. Die Organisatoren mieten daher den größten Bostoner Veranstaltungsort, das Hynes Convention Center. Die Party am Vorabend der Preisverleihung, auf der mehr getanzt und getrunken wird, als es das Nerd-Klischee vermuten ließe, findet in der mehrgeschossigen Bar "Jillian's" statt.
Manch einer mag der Idee einer synthetischen Biologie, die lebende Organismen als beliebig umprogrammierbare Maschinen begreift, kritisch gegenüberstehen. Man mag auch die umfangreichen Bemühungen der iGEM-Organisatoren, die Studententeams auf Sicherheitsstandards einzuschwören und sich mit den Folgen auseinanderzusetzen, die ihre Geschöpfe für Umwelt und Gesellschaft bedeuten könnten, als Feigenblatt abtun. Eines können aber auch die schärfsten Kritiker dem Wettbewerb nicht absprechen: Nirgendwo sonst ist auf engem Raum mehr wilder Schöpfungsdrang zu erleben, mehr Spaß am Forschen zu spüren. Und nirgendwo sonst lassen sich die Ausmaße der biotechnischen Revolution besser begreifen. "Wer wissen will, was in fünf Jahren in der synthetischen Biologie passiert, der sollte heute zu iGEM kommen", sagt Kelly Drinkwater vom iGEM-Organisationsteam.
Mariam Hammoud, Biotechnologie-Studentin an der Technischen Universität Berlin, etwa hat 2015 teilgenommen. "Man kommt mit vielen Forschern, jungen wie erfahreneren, ins Gespräch", sagt sie. Ihr Team hatte Bakterien so verändert, dass sie Enzyme produzieren, mit denen sich winzige Plastikteilchen aus dem Abwasser fischen lassen. "Wir haben in unserem Vortrag betont, dass das Endprodukt nicht mehr gentechnisch verändert sei, also problemlos eingesetzt werden könne", sagt Hammoud. Doch ein Jurymitglied habe geraten, besser genau zu prüfen, ob ihre Methode nicht doch als gentechnisch eingestuft werden könnte.
iGEM ist dabei keineswegs nur für Biotech-Profis. Wer als Laie den iGEM-Spirit hautnah mitbekommen will, kann sich einem der "Community"-Teams anschließen. Bernadette Gallagher beispielsweise war 48 und Highschool-Lehrerin für englische Literatur, als sie sich dem iGEM-Team des Community College of Baltimore County anschloss. 50 Kilometer quälte sich die Mutter dreier Kinder mehrfach die Woche über verstopfte Autobahnen, um im Labor des College-Professors Tom Burkett ihre ersten gentechnischen Handgriffe zu lernen. Ihr Projekt: das Darmbakterium Escherichia coli zur Fabrik für ein Enzym umprogrammieren, mit dem sich Erbgut kopieren lässt. "Wenn es endlich klappt, fühlt man sich großartig", meint Gallagher.
Für 750 Dollar kann jeder aber auch einfach als Besucher an der "Jamboree" teilnehmen und die dreitägige Konferenz miterleben. Man hat dann zwar nicht seinen eigenen Mikroorganismus erschaffen, bekommt aber ein Gefühl dafür, was synthetische Biologie bedeutet und wie sie unser Leben verändern könnte. So entwickelt der ehemalige iGEM-Teilnehmer Pieter van Boheemen aus Amsterdam mit seiner Firma Amplino ein tragbares Gerät, das Malaria oder andere Parasiten auch in abgelegenen Gegenden Afrikas im Blut diagnostizieren kann.
Der kleine Koffer ermöglicht preisgünstige Erbgutanalysen. Mariam Hammouds iGEM-Kollege Johann Bauerfeind hat inzwischen das Start-up Solaga mitgegründet. Es will Solarzellen auf Häuserdächer bringen, in denen Blaualgen und Bakterien aus Sonnenlicht, Kohlendioxid und Sauerstoff Biogas zur Energieerzeugung herstellen. "Bei iGEM dabei gewesen zu sein, hat uns sehr geholfen", sagt Bauerfeind. Ohne den Austausch und die Kontakte dort hätte es viel länger gedauert, einen Prototyp zu entwickeln. "Wir haben viel Geld gespart, indem wir vieles selbst gebaut haben." (bsc)