Wie frei sind die Gedanken, Herr Haynes?

Was passiert im Gehirn, wenn wir eine Entscheidung treffen? Könnte man einen Attentäter anhand seiner Hirnaktivität entlarven? Technisch wäre es durchaus möglich, meint der Berliner Neuroforscher John-Dylan Haynes.

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Von
  • Birgit Herden
Inhaltsverzeichnis

Haynes ist Professor an der Charité Berlin und Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging.

TR: Herr Haynes, in einem Experiment zeigten Sie, dass sich Entscheidungen schon sieben Sekunden vor dem Moment vorhersagen lassen, an dem der Proband sie überhaupt bewusst fällt. Wann machen uns Fortschritte in den Neurowissenschaften zu völlig berechenbaren Wesen?

HAYNES: Schon Benjamin Libet zeigte per Hirnstrommessungen, dass die bewusste Entscheidung seiner Probanden etwa 200 Millisekunden vor der Bewegung fiel. Im EEG wurde aber deutlich, dass das Gehirn schon 300 Millisekunden davor seinen Grundzustand ändert – man spricht hier vom Bereitschaftspotenzial. Wir haben das Libet-Experiment 2008 in ähnlicher Form mithilfe der funktionellen Kernspintomografie wiederholt und konnten so das gesamte Gehirn erfassen, nicht nur die motorischen Bereiche.

Die Probanden lagen still im MRT und sollten sich irgendwann für die Bewegung der rechten oder linken Hand entscheiden. Wir konnten die Entscheidung für links oder rechts sogar schon sieben Sekunden vor der bewussten Entscheidung vorhersagen. Experimente wie diese sind ein Kernargument in der Debatte um den freien Willen: Wie kann eine Entscheidung frei sein, wenn unser Gehirn sie schon unbewusst vorbereitet?

Sind wir also viel berechenbarer, als uns lieb ist?

Nicht so schnell. Unsere Trefferquote war ungenau, und es blieb die Frage: Sind die unbewussten Vorgänge wirklich die kausale Ursache für die Entscheidung, oder zeigen sie nur eine Tendenz an? Funktionieren Entscheidungsprozesse also wie eine Kette von Dominosteinen, bei der alle Steine zwangsläufig fallen, sobald unbewusste Prozesse den ersten umgestoßen haben?

Um sie zu beantworten, benötigten wir ein spezielles Gehirn-Computer-Interface. Wir haben mit der Gruppe von Benjamin Blankertz von der TU Berlin zusammengearbeitet, deren Spezialität Algorithmen sind, mit denen man die Gehirnaktivität sehr schnell auslesen kann. Die Probanden wurden zu einem Spiel gegen einen Computer aufgefordert.

Wenn es ihnen gelang, während eines grünen Signals ein Fußpedal zu betätigen, hatten sie gewonnen. Ihre Gehirnaktivität wurde dabei durch ein EEG ausgelesen, und der Computer versuchte, die Entscheidung vorherzusehen und dann ein rotes Stoppsignal zu geben. Wenn die Probanden das Pedal bei rot drückten, hatten sie verloren.

Was war das Ergebnis?

Es zeigte sich, dass das Bereitschaftspotenzial immer gleich verlief – sobald im Gehirn ein Bewegungsplan gestartet ist, kann der Prozess nicht mehr unterdrückt werden. Dennoch konnten Probanden ein Veto ausüben – wenn während des Bereitschaftspotenzials das rote Stoppsignal aufleuchtete, gelang es ihnen in vielen Fällen noch, die Bewegung zu unterdrücken.

Auch wenn der erste Dominostein schon gefallen ist, kann das Bewusstsein einen späteren herausnehmen und so die Kettenreaktion unterbrechen. Erst 200 Millisekunden vor der Bewegung gab es einen "Point of no return".

Ist unsere Vorstellung von Willensfreiheit gerettet?

Nur scheinbar, denn es gibt längst viel bessere Argumente als jenes Libet-Experiment. Wir wissen inzwischen sehr genau, dass unsere Gedanken – unsere Erlebnisse, Wahrnehmungen, Gefühle, Pläne und Entscheidungen – durch Hirnaktivität realisiert werden. Das Gehirn ist der Träger des Bewusstseins, daran gibt es keine ernsthaften Zweifel mehr. Aber wenn das so ist, dann unterliegen sowohl die unbewussten Prozesse als auch die bewussten Entscheidungen den Naturgesetzen.

Alle Kausalmechanismen, an die wir glauben, wenn es um Herz, Niere oder auch Flugzeuge geht, gelten ja auch für das Gehirn. Unsere Veranlagung und alle unserer Erfahrungen führen dazu, dass unser Gehirn in einer bestimmten Situation auf eine bestimmte Weise reagiert. Selbst wenn wir uns im Stillen vornehmen würden, uns völlig unerwartet zu verhalten und damit unsere Willensfreiheit zu demonstrieren, wäre auch diese Entscheidung durch irgendetwas ausgelöst worden, was in der Vergangenheit passiert ist.

Ein allwissender Beobachter, der in unser Gehirn blicken und alle relevanten Faktoren erfassen könnte, wäre in der Lage, unsere Entscheidung vorherzusehen. Der Geist kann nichts machen, was nicht im Gehirn repräsentiert ist – das ist durch die vielen Experimente der letzten zehn Jahre sehr deutlich geworden.

Wenn alle geistigen Prozesse physikalisch messbar sind, wäre Gedankenlesen also möglich?

In einem Experiment haben wir Probanden gebeten, sich willkürlich dafür zu entscheiden, zwei Zahlen entweder zu addieren oder zu subtrahieren. Im funktionellen Kernspintomografen ist es uns 2007 gelungen, mithilfe von Mustererkennung mit einer 70-prozentigen Genauigkeit zu erkennen, ob die Probanden sich für die Addition oder die Subtraktion entschieden. Seither hat es viele weitere Versuche in diese Richtung gegeben.

Man kann zum Beispiel rekonstruieren, welchen Buchstaben oder sogar welche Filmsequenzen ein Mensch sieht. Durch dieses Auslesen mentaler Zustände ist sehr klar geworden, wie eng der Zusammenhang zwischen unserem bewussten Erleben und der Gehirnaktivität ist. Bei allen Fortschritten ist ein wirkliches "Gedankenlesen" aber noch in weiter Ferne.