Digital Health: "Krebspatienten ist Datenschutz unwichtig"

Der Genetiker Hans Lehrach will Patienten so weit digital erfassen, dass sich ihre Körper am Computer virtuell simulieren und deutlich besser behandeln lassen. Datenschutzbedenken hätten vor allem die Gesunden.

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Digital Health: Virtueller Patient bietet Chancen für die Medizin
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Der emeritierte Direktor des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik in Berlin, Hans Lehrach, sieht in dem Ansatz des virtuellen Patienten den Schlüssel zu zielgerichteten und wirtschaftlichen Medizin. Im Interview mit der Stiftung Gesundheit stellt er seine Vision zur Therapie und Vorsorge vor. Er rechnet mit einem großen Gewinn für die Gesundheit, weil man etwa mit einem virtuellen Zwilling eines Patienten 90 bis 95 Prozent von unerwünschten Nebenwirkungen vermeiden könnte.

Sie allein fordern in Europa jedes Jahr für rund 200.000 Todesfälle. Lehrach zufolge haben "unsere Gesundheitssysteme eine gewisse Ähnlichkeiten mit der Titanic". Die derzeitige Schwierigkeit lässt sich an Krebsleiden veranschaulichen: Jeder Patient ist verschieden, kein Tumor ist gleich. Und selbst die einzelnen Zellen eines Tumors können unterschiedlich auf ein und dasselbe Medikament ansprechen. Um den Eisberg zu umschiffen, "sequenzieren wir zum Beispiel den Tumorgenom und Transkriptom (alle in einer Zelle hergestellten RNA-Moleküle), sowie das Genom des Patienten. So erhalten wir Hinweise, welche Medikamente verwendbar sind und steigern so die wirtschaftliche und medizinische Effizienz der Therapie", erklärt Lehrach. So ließe sich schon vor der Verabreichung von Medikamenten bei jedem feststellen, welche Arzneimittel die beste Wirkung und die geringsten Nebenwirkungen zeigen. Lehrach denkt aber bereits über Tumore hinaus.

Wearables und Health-Apps hält er etwa in der Herz-Kreislauf-Medizin für sinnvoll. Detailliert gemessene Daten könnten dann in ein Modell des Patienten übersetzt werden. "Ich würde als langfristige Entwicklung gerne sehen, dass jeder von Geburt an bis ins hohe Alter ein individuelles Modell von sich selbst als eine Art Schutzengel zur Verfügung hat", so Lehrach. So könnte beispielsweise die Apotheke checken, ob ein neues Medikament auch zur restlichen Medikation des Patienten passt. "Je mehr wir imstande sind, Modelle des Patienten zu entwickeln, an denen wir alle möglichen Therapien und Präventionsmaßnahmen testen können, desto gezielter, besser und kostengünstiger werden Therapie und Prävention, und desto besser und kostengünstiger wird die medizinische Versorgung."

Doch dafür ist es notwendig, sensible Patientendaten zu speichern und gegebenenfalls auszutauschen. Lehrach ist sich der Brisanz des Themas durchaus bewusst. Die große Skepsis etwa gegenüber der elektronischen Gesundheitskarte kann der Genetiker dennoch nicht teilen. "Ich möchte nicht wissen, wie viele Menschen in Deutschland schon am Datenschutz gestorben sind." Der Grund, warum der Datenschutz so wichtig genommen werde, sei vor allem die Haltung der Gesunden. "Den Krebspatienten ist Datenschutz unwichtig. Die wissen nämlich, was wichtig ist: ihr Überleben", meint Lehrach.



Hans Lehrach ist Referent auf dem "Innovators Summit – Digital Health", der am 30. November 2016 in Berlin stattfindet.

[Korrektur, 13:45 Uhr, 21.9.2016: In dem Text hatten sich Doppelungen eingeschlichen. Wir bitten, diese Übertragungsfehler zu entschuldigen. jle] (jle)