Digitale Musik: Mit dem Sofa in der Carnegie Hall

Mit neuen Tontechnologien lassen sich alle Konzertsäle der Welt simulieren – und ins eigene Wohnzimmer holen.

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Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Joseph Scheppach

Begeistert werfen die Fans die Hände in die Luft, wippen im Takt der Elektrobeats – die britische Band Years & Years ist auf der runden Bühne in dem Londoner Club von Konzertbesuchern umgeben. Doch ein Teil der Masse bleibt für die Musiker unsichtbar. Diese Zuhörer stehen nicht vor der Bühne, sondern sind überall auf der Welt verteilt. Denn das Konzert wurde als 360-Grad-Video live ins Internet übertragen.

Ermöglicht haben das der Konzern Samsung und die neuartige Audio-Software Cingo des Fraunhofer-Instituts IIS in Erlangen. Mit einem kompatiblen Smartphone und einem speziellen Headset, um in die virtuelle Realität abzutauchen, eröffnet Cingo dem Zuhörer ein völlig neues Klangerlebnis: Die Software vermittelt dem Musikfan das Gefühl, selbst im Konzertsaal zu sitzen.

Der Trick hinter dem lebensechten Höreindruck: Die Audio-Software berücksichtigt auch Schallreflexionen. "In einem Konzertsaal kommt die Musik nicht nur direkt von der Bühne", erklärt Cingo-Entwickler Oliver Hellmuth vom IIS. "Wir hören auch die Reflexionen des Schalls von der Decke und den Wänden. Erst hierdurch erhalten wir einen dreidimensionalen Klangeindruck." Um diesen Eindruck nachzubilden, hat Hellmuth mit seinem Team spezielle Algorithmen entwickelt, die einen natürlichen dreidimensionalen Raumklang erzeugen. Cingo analysiert dafür, welche Elemente einer Aufnahme Direktschall und welche Reflexion sind, und fügt sie anschließend zu einem Klangbild zusammen. Die Software ist vor allem für mobile Anwendungen gedacht, die Nutzern auch unterwegs Konzertsaal-Atmosphäre vermitteln sollen.

Aufwendiger, dafür aber klanglich noch wesentlich ausgefeilter ist eine andere Technologie, die hauptsächlich auf professionelle Kunden wie Messeausrichter oder Museumsbetreiber zielt. Sie beruht auf einem neuartigen Lautsprechersystem, um maßgeschneiderte Schallwellen zu erzeugen. Bisherige Stereolautsprecher tricksen den Zuhörer gewöhnlich aus, indem sie ihm den Eindruck vermitteln, als befände sich genau zwischen den Lautsprechern eine Schallquelle. Dieser "Sweet Spot" bildet die ideale Position, um dem Klang zu lauschen. Das Problem: An jedem anderen Platz verschlechtert sich die Tonqualität.

Holoplot soll da Abhilfe schaffen. Bei dem System gibt es keine bevorzugte Hörposition. Die Technologie des gleichnamigen Potsdamer Start-ups soll den ganzen Raum zu einem begehbaren Sweet Spot machen. Die Technologie basiert auf der "Wellenfeld-Synthese", die der niederländische Physiker Christiaan Huygens bereits vor mehr als 300 Jahren formuliert hat. Er hatte entdeckt, dass sich im Wasser mit vielen kleinen Steinchen Wellen jeder Form erzeugen lassen – vorausgesetzt, man weiß, wo man die Steine wann ins Wasser fallen lassen muss. Verallgemeinert folgerte der Forscher daraus: Jede beliebige Wellenfront – ob Wasser- oder Schallwellen – lässt sich durch eine Überlagerung mehrerer einzelner Wellen erzeugen.

Nach diesem Prinzip arbeitende Klangsysteme gibt es zwar schon länger. Doch sie basieren auf Hunderten von Lautsprechern, die im ganzen Raum verteilt werden müssen. Anders bei Holoplot. Auch dieses System besteht aus 1000 Einzellautsprechern. Sie alle sind aber in eine einzige, 26 Zentimeter flache Audiowand integriert, die mit 3,46 mal 1,90 Metern sogar ins Wohnzimmer passt.

Für jeden Lautsprecher berechnet ein Algorithmus je nach Abstrahlrichtung ein individuelles Signal mit bestimmter Lautstärke und zeitlicher Verzögerung der Wellen. So werden Schallwellen geformt, die den Klang entweder breit im Raum verteilen oder fokussiert in bestimmte Richtungen lenken. "Distanzen von 100 Metern und mehr können so überbrückt werden, ohne dass der Schalldruck merklich abnimmt", sagt Holoplot-Mitgesellschafter Georg Sick. "Die Zuhörer hinten hören genauso gut wie die vorn – alle stehen im Sweet Spot."

Mit Holoplot lässt sich sogar die Akustik berühmter Konzertsäle ins Wohnzimmer zaubern. Dafür sorgt ein zentraler Rechner, an den sich alle gängigen Abspielgeräte anschließen lassen. Die Informationen zur Akustik fast jedes berühmten Konzertsaals sind mittlerweile im Internet abrufbar – von der New Yorker Carnegie Hall bis zum Wiener Musikvereinssaal.

Dennoch dürften wohl nur Musikbesessene die Anlage zu Hause aufstellen. Denn zum einen ist es mit dem Herunterladen der Akustikdaten nicht getan. "Für die Simulation benötigen wir die Abmessungen des neuen Raumes sowie Angaben zu den Materialien wesentlicher Flächen", erläutert Sick. "Diese Werte werden dann mit den Daten des Original-Konzertsaals verrechnet." Zum anderen kostet die Audiowand 130.000 Euro.

Gedacht ist Holoplot daher vor allem für Profis. Und sie scheinen begeistert. Der Bergisch-Gladbacher Sound-Designer Bode Bergmann etwa lobt nicht nur die "tollen Klangerlebnisse", sondern auch die Möglichkeit, mit den richtbaren Audiowellen genau abgezirkelte Bereiche zu beschallen. Auf einer mehrsprachigen Konferenz etwa könnte eine Personengruppe einen Vortrag auf Englisch hören, während die Sitznachbarn dieselben Worte auf Russisch vernehmen – ganz ohne Knopf im Ohr. (bsc)