Das Unbehagen in dem Digitalen
Wie fühlt sich ein "Digital Native", der noch nie eine Videokassette zurückgespult hat? Redakteur Andreas Wilkens weiß es nicht. Er ist froh, dass viele Zeugnisse seines Lebens auf Papier existieren – aber nicht immer.
(Bild: IBM)
Einen Teil meines Lebens verbrachte ich als Fernbedienung. Als jüngstes Kind einer vielköpfigen Familie, das im Wohnzimmer liegend gern Matchbox-Autos knapp an der Nase vorbeischob – der Teppich hatte praktischerweise eine Art Straßennetz eingewebt – erklang vom Sofa ab und zu ein "Schalt mal um, Lüttscher" zu mir herüber. Dann robbte ich zum Fernseher und drückte einen der sechs Schalter im braunen Furnier des ITT Schaub-Lorenz, von denen drei mit Programmen belegt waren. Der Fernseher hätte eigentlich eine kabelgebundene Fernbedienung haben können, aber es gab ja mich. Das Wort "optional" kannte ich damals noch nicht.
Damit das Loch, das ich meinem Vater in den Bauch fragte, nicht noch größer wurde, nutzte er ein Angebot der örtlichen Tageszeitung. Abonnenten konnten ein zwanzigbändiges Lexikon kostengünstig erstehen. Allerdings wurde es nicht in einem Schwung geliefert, sondern es tröpfelte über Monate hinweg bändeweise herein. Mein Vater stellte es direkt auf der Ablage des Wägelchens unter dem Fernseher, sodass ich meiner Bestimmung folgen und im gleichen Zug auch noch meinen Wissensdurst stillen konnte. Gerne sprang ich lexikalisch von Verweis zu Verweis, bis es hieß: "Mach mal lauter", und ich schob den Regler.
Anfangs stöberte ich nur in einem Begrifferaum von "A" bis "Bam", aber dann sammelte sich doch noch mehr an, das ich dann auch gerne loswerden wollte, zumal mein Vater – "Schalt mal ins Dritte." – gerne Bildungsfernsehen sah und aus der Zeitung vorlas. Er besorgte mir eine Schreibmaschine, auf der ich wiederum eine Zeitung für die Familie verfertigte. Bei einem Stückpreis von 10 Pfennig und mit zwei Durchschlagpapieren konnte ich mein Taschengeld täglich um 30 Pfennig aufbessern. Im Tante-Emma-Laden um die Ecke setzte ich sie freitags in Schaumerdbeeren, Brausetaler und Wundertüten um.
Nadelgekreische in lauer Sommerluft
Sobald ich es mir leisten konnte, ersetzte ein Computer die IBM Selectric, zu der es ich bis dahin gebracht hatte. Damit verabschiedete ich mich auch von vier Kugelköpfen mit unterschiedlichen Schrifttypen. Der Tintentank des HP Deskjet 500 war mit einer Spritze wiederauffüllbar. Auf dessen Vorgänger, einem 24-Nadeldrucker von NEC, ließen sich zwar auch längere Texte ausdrucken, aber trotz der Ohrenbetäubung durfte ich ihn nicht allein lassen, denn es drohte immer ein Papierstau, wie ich einmal leidlich nach einem ausgiebigen Spaziergang erfahren musste. Wenn ich seinerzeit sommers um den Pudding ging, hörte ich aus manchem Fenster markante Hörprodukte des Adlersuchsystems, die zunehmend von Nadeldruckgekreische abgelöst wurden. Nach einer Sound- holte ich mir irgendwann auch eine Fernsehkarte. Und auf CD gönnte ich mir ein multimediales Lexikon.
Obendrein ließ sich auf dem grauen Kasten auch noch spielen, so dass zwei Dutzend Jahre später all das, was mich seinerzeit auf dem orientalischen Teppich im Wohnzimmer umgab, in einem Gerät versammelt war, heute sogar in einer Jacken- oder Hosentasche mitführbar. Damit kann ich obendrein fotografieren und ich kann jederzeit das Schlaue Buch befragen, wenn ich etwas wissen will.
Bitte zurĂĽckgespult zurĂĽckbringen
In der Zwischenzeit ersetzte ich meine Schallplattensammlung durch CDs. Die Silberlinge wiederum digitalisierte ich später in MP3-Dateien und schaufelte diese weiter auf einen Heimserver. Das Digitalisieren, nicht das Schaufeln, hieß – in meinen Ohren unschön – "rippen", ein Wort, das in deutschen Landen vermutlich nicht mehr so häufig gebraucht wird wie noch vor fünf Jahren. Die CDs gab ich auch weg, denn all das Liedgut, das sich darauf versammelt, wird jetzt von Streamingdiensten im Internet angeboten.
Das Material der Zeugnisse meiner Existenz hat sich also immer mehr in Bits gewandelt. Wann habe ich das letzte Mal ein Foto auf Film festgehalten oder in ein Album eingeklebt? Wann das letzte Mal einen FĂĽllfederhalter benutzt, nicht nur, um zu kondolieren oder ein Liebesgedicht zu verfassen? Eine LP aufgelegt oder einer Single einen Puck verpasst? Mit einem Bleistift das Band einer Audiokassette gestrafft? NachgebĂĽhr fĂĽr eine nicht zurĂĽckgespulte Videokassette gezahlt? Den Schreibschutz einer Diskette umgestellt?
Backup vom Backup
Inzwischen hat mich der Trend erwischt, meine Dokumente nicht einmal mehr auf Datenträger zuhause aufzubewahren, sondern dafür die Datenwolken zu bemühen. Da ich diesen Diensten gegenüber immer noch skeptisch eingestellt bin, lasse ich zum Beispiel die Digitalfotos auf meinem Smartphone zwar mit der Cloud synchronisieren, in halbjährlichen Abständen schiebe ich sie aber auf meinen Server zu Hause – von dem es natürlich ein Backup gibt. Dabei beschleicht mich mitunter die Furcht, ob das als Sicherung ausreicht.
Zum Glück existieren viele persönliche Zeugnisse meines Lebens nicht nur virtuell, sondern auf Papier, doch auch hier setzt sich die Furcht manchmal kalt in den Nacken. Wegen einer größeren Gefahr des Wasserschadens dort bewahre ich sie nicht im Keller auf, sondern unterm Dach. Das Unbehagen reicht noch weiter, denn auch Papier kann zerfallen, zerfressen werden, verschimmeln.
Jüngst, zwischen den Jahren, schaute ich mir meine Papierstapel aus Tagebucheinträgen, literarischen Versuchen, Briefen und die Familienzeitungen wieder einmal an. Die gut 40 Jahre alten Blätter erschienen mir, als seien sie gerade eben von der Walze geschlüpft. Auch die Fotos zeigten kaum Altersspuren. Sollte ich nun dennoch alles einscannen und meinem Unbehagen ein zweites Standbein verpassen? (anw)