Das Hormon der Hundertjährigen

Im süditalienischen Cilento leben ungewöhnlich viele Hundertjährige. Dabei scheint es um ihre Gesundheit auf den ersten Blick nicht gut bestellt zu sein. Nun suchen Forscher nach der Ursache für ihr langes Leben. Eine Spur haben sie bereits.

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Von
  • Thomas Gabrielczyk
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Viele glauben, das Geheimnis eines langen Lebens liegt im Sport, dem richtigen Essen und vor allem dem richtigen Maß an Enthaltsamkeit. Aber diese Annahme straft Michelina Vasalli schon beim ersten Anblick Lügen. Ein wenig pummelig, ein leeres Glas Wein und einen überquellenden Aschenbecher vor sich auf dem Tisch sitzt die 101-Jährige, allerdings vom Alter ein wenig gebeugt, in ihrer angenehm kühlen, gefliesten Küche in Acciaroli.

Und sie ist dort keine Ausnahme. Das einstige Fischerdorf und die angrenzenden Bergdörfer des Cilento – eine waldige Bergregion 150 Kilometer südlich von Neapel – weisen laut dem italienischen Statistikamt Istat eine ungewöhnliche Dichte an Hundertjährigen auf. 184 waren es zum Jahresende 2015. "Im Cilento werden die Frauen durchschnittlich 92 Jahre alt, acht Jahre älter als der italienische Durchschnitt; die Männer liegen mit 85 immerhin noch sechs Jahre darüber", sagt Salvatore Di Somma, Professor für Innere Medizin an der Universität La Sapienza in Rom.

Der Mediziner, selbst gebürtiger Neapolitaner, interessiert sich schon lange für die Faktoren, die ein langes Leben bescheren. Im Cilento, das er seit seinen Teenagerjahren regelmäßig besucht, hofft der Initiator der Cilento Initiative on Aging Outcome (CIAO) auf Antworten zu stoßen. Er und seine amerikanischen Forschungspartner von der Universität San Diego wollen neben der Analyse aller aktiven Gene auch die Lebensgewohnheiten sowie die Gemeinsamkeiten im Stoffwechsel der Hochbetagten aus dem Cilento untersuchen. "Wir wollen wissenschaftlich begründete Hypothesen darüber aufstellen, welche Faktoren infrage kommen", sagt Di Somma.

Dafür suchte der Mediziner vor allem nach hochbetagten Probanden, die alle im selben Haushalt oder doch wenigstens Tür an Tür leben. Zu ihnen gehört auch Michelina. Bei der Begrüßung stellt die Dame allerdings gleich klar: "Ich mache das alles nur wegen dem Dottore." Die Alten des Örtchens leben durchweg zurückgezogen und scheu gegenüber Fremden, deshalb wollte Michelina auch nicht unter ihrem richtigen Namen in einem Artikel erscheinen.

Den 63 Jahre alten Di Somma hingegen kennt Michelina schon seit 40 Jahren. Damals war der Dottore, wie sie ihn nennt, 23 Jahre alt und ein Freund ihres Sohnes Antonio. Als der Mediziner Michelina und ihre vier Geschwister – allesamt über 93 – fragte, ob sie sich untersuchen lassen würden, überlegten sie nicht lange. Letztendlich ließen sich für Di Sommas Studie 26 Teilnehmer finden, deren Söhne und Töchter im gleichen Haushalt leben. Im Falle von Michelina wohnen vier Generationen fast vollzählig in der gleichen Straße. "Das erleichtert es, den Einfluss der Gene, der Ernährung und anderer Faktoren, die zu einem langen Leben beitragen, systematisch zu analysieren", sagt Di Somma.

Für die ersten Untersuchungen zu ihrer Pilotstudie fuhren die Wissenschaftler mit einem medizinisch hervorragend ausgestatteten Bus der Universität Rom in die Bergdörfer des Cilento. Das Team besuchte die 26 Studienteilnehmer und machte vor Ort einen kompletten medizinischen Check-up. Außerdem befragte es die Probanden – Durchschnittsalter 92 Jahre – und ihre 52 im gleichen Haushalt lebenden Verwandten (Durchschnittsalter 60 Jahre) ausführlich über ihre Lebens- und Ernährungsgewohnheiten. Zusätzlich nahmen sie allen Teilnehmern Blut ab.

Die Auswertung ergab Unerwartetes. Die Ergebnisse von Ultraschall und der elektrischen Aktivität von Herz und Gehirn sowie von anderen Untersuchungen deuteten auf gesunde Hochbetagte hin. Die Bluttests, die Herz- und Nierenfunktion dokumentierten, ließen allerdings auf das genaue Gegenteil schließen. "Die Werte waren so hoch wie bei Patienten, die unter akutem Nierenversagen oder Herzinsuffizienz leiden", sagt Di Somma. Dass kein Messfehler vorlag, zeigte der Vergleich mit den jüngeren, gesunden Probanden. Auch eine gesunde Kontrollgruppe von 284 Skandinaviern mit einem Durchschnittsalter von 64 Jahren zeigte keine Auffälligkeiten. Ihre Gesundheitsparameter waren im Rahmen des Malmö-Prevention-Projektes acht Jahre lang feinmaschig untersucht worden.

Was also war das Geheimnis der Alten von Acciaroli und des Cilento? Nach längerer Suche entdeckten die Forscher dann doch noch einen Unterschied: Alle besaßen nur eine geringe Menge eines bestimmten Hormons im Blut – und zwar der aktiven Form des Adrenomedullins, kurz bio-ADM. "Normalerweise zeigen Patienten mit Herzfehler und akutem Nierenversagen auch krankhaft erhöhte Adrenomedullin-Werte", sagt Di Somma. Der Körper schüttet bio-ADM aus, um drohende Organschäden abzuwenden. Der Botenstoff reguliert maßgeblich den Blutdruck und die Gefäßdurchlässigkeit für große Moleküle und Zellen in den fein verästelten Blutkapillaren. Er sichert also die Versorgung der Gewebe mit Nährstoffen und Sauerstoff. Ist bio-ADM jedoch erhöht, entsteht ein Teufelskreis: Mit der höheren Durchlässigkeit der Blutgefäße sinkt der Blutdruck.

Das Herz muss zum Ausgleich stärker schlagen. Das Herz von Personen mit niedrigem Bio-ADM-Spiegel muss somit weniger arbeiten, um Organe gut mit Blut, Nährstoffen und Sauerstoff zu versorgen sowie Kohlendioxid und Stoffwechselgifte abzutransportieren. "Unsere Erklärung lautet deshalb, dass die pathologischen Nieren- und Herzwerte die natürliche Alterung der Organe in den betagten Menschen anzeigen, diese aber durch eine ausgezeichnete Durchblutung der Organe ausgeglichen wird", sagt Di Somma. Sportmediziner wissen seit Langem, dass eine gute Kapillardurchblutung oder Mikrozirkulation ein leistungsbestimmendes Merkmal von Langstreckenläufern ist.