Das Hormon der Hundertjährigen

Seite 2: Eines der großen Rätsel der Medizin

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Auch Ingo Froböse von der Sporthochschule Köln etwa bestätigt, dass sie doppelt so viele Mikrogefäße wie Otto Normalverbraucher besitzen. Dass regelmäßiges, langsames Joggen die Herzgesundheit verbessert und das Leben um rund sechs Jahre verlängert, haben dänische Forscher um Gorm Jensen im Rahmen der Copenhagen City Heart Study bereits im vergangenen Jahr nachgewiesen. Sie beobachteten gut 17.000 gesunde Probanden zwischen 20 und 98 Jahren über 35 Jahre hinweg.

Allerdings scheint es wenig wahrscheinlich, dass in nächster Zeit eine Verjüngungspille auf den Markt kommt, die den Bio-ADM-Spiegel im Blut senkt. Noch wissen Forscher viel zu wenig über die Wirkungen des Botenstoffs. Es sind zwar drei Rezeptoren im Körper bekannt, an die das Hormon andockt. Aber welche Stoffwechselreaktionen dies auslöst, liegt im Dunkeln. Ebenso unklar ist, ob nicht noch weitere Bindestellen existieren.

Di Somma treibt daher eine andere Frage um: Warum ist die Mikrozirkulation bei den Hochbetagten in Acciaroli und im Cilento so außergewöhnlich gut? Die Suche nach der Antwort mündet direkt in eines der großen Rätsel der Medizin: Warum manche Menschen ein extrem hohes Alter erreichen und andere schon mit 60 oder 70 sterben. Dass Gene und Lebensumstände hierbei zusammenspielen, stellt kaum ein Experte infrage.

Aber welcher Faktor ist ausschlaggebend? Karl Lenhard Rudolph vom Leibniz-Institut für Altersforschung in Jena sieht eher die Vererbung in der Hauptrolle. "Wenn ich von meinen Genen her 70 Jahre alt werde, kann ich noch so gesund leben – ich werde keine 100", ist der Wissenschaftler überzeugt. Die groß angelegte Suche nach solchen Genvarianten mit DNA-Sequenziergeräten haben sich unter anderem die US-Firmen Longevity und Calico – eine Ausgründung des Suchmaschinenanbieters Google – auf die Fahnen geschrieben. Tatsächlich finden Forscher immer mehr Genvarianten, die dort gehäuft auftreten, wo besonders viele Hundertjährige leben.

Andere dagegen rücken den Lebenswandel ins Zentrum. Unzählige Studien an verschiedenen Orten der Welt mit hoher Dichte an Hundertjährigen haben mittlerweile gezeigt, dass ein hohes Alter mit einer gemüsereichen, maßvollen Ernährung einhergeht. "Die Gene spielen eine Rolle, die aber nicht überbewertet werden sollte", meint Christoph Rott, Projektleiter der Heidelberger Hundertjährigen-Studie. Es "gilt die Faustregel, dass ein Viertel der Lebensdauer von der Genetik abhängt", so Rott. "Ein weiteres Viertel wird dadurch bestimmt, wie man als junger Mensch gelebt hat, und die übrige Hälfte wird durch den Lebensstil als Erwachsener geprägt."

Statistische Erhebungen der Vereinten Nationen (UN) untermauern Rotts Hypothese. Die Daten belegen, dass die Zahl der Hundertjährigen erst seit den Siebzigerjahren rapide ansteigt. Waren bis 1900 Hundertjährige die Ausnahme, zählte die UN im Jahr 1970 rund 200 in Deutschland. Zehn Jahre später waren es hierzulande bereits 900, im Jahr 1990 rund 2800 und 2002 gut 7200. Für das Jahr 2025 rechnet die UN in Deutschland mit 44200 Hundertjährigen – ein zu schneller Anstieg, um allein von den sich langsam verändernden Erbfaktoren verursacht zu sein.

Di Sommas Ergebnisse heben die Forschung nun auf ein neues Niveau: Die Bestimmung des Bio-ADM-Spiegels ermöglicht erstmals eine Untersuchung der genauen Umstände, die zu einem hohen Alter beitragen. Bisher ist man bei den konkreten lebensverlängernden Faktoren zum Großteil auf Mutmaßungen angewiesen. "Wenn eine gute Mikrozirkulation sich als Biomarker für eine hohe Lebenserwartung bestätigt, können wir erstmals messen, welche Faktoren sie verändern", meint Andreas Bergmann. Der Gründer des deutschen Diagnostikunternehmens Sphingotec aus Hennigsdorf bei Berlin hat den eingesetzten Bio-ADM-Bluttest entwickelt. Diesen Beweis soll nun eine groß angelegte Hauptstudie mit rund 2000 Teilnehmern bringen. Mit ihr will Di Somma zudem nach den Gründen für die ungewöhnlich gute Mikrozirkulation der Hochbetagten suchen.

Er persönlich nimmt an, dass eine Ursache für das hohe Durchschnittsalter in der Region in der Cilento-typischen Küche zu finden ist. Im Verdacht hat er den wilden Rosmarin, mit dem lokale Fischgerichte traditionell zubereitet werden. Ebenso eine Rolle spielen könnte ihm zufolge auch der geringe Kontakt mit möglicherweise gesundheitsgefährdenden Stoffen, etwa in moderner Kosmetik. So ergaben die Interviews mit den Probanden der Pilotstudie, dass die Hochbetagten ausschließlich Seife und kein Shampoo benutzen.

Um das Rätsel zu ergründen, will Di Somma unter anderem Personen mit hohen Bio-ADM-Spiegeln in den Cilento bringen. "So können wir prüfen, ob die Faktoren, die die Organdurchblutung verbessern, tatsächlich Umweltfaktoren sind." Ob am Ende ein Mittel wie der wilde Rosmarin stehen wird, mit dem sich das eigene Leben verlängern lässt, steht in den Sternen. Aber die Chancen stehen gut, dass Di Somma einen entscheidenden Schlüssel zum hohen Alter findet. (bsc)