Das Genom ist nicht genug

Erbgutentschlüsseler Craig Venter hat sein nächstes Giga-Projekt: Er will DNA-Informationen mit den Gesundheitsdaten von einer Million Patienten verknüpfen, um Krankheiten vorauszusagen.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Arlene Weintraub
  • Inge Wünnenberg

Wer ihm Böses will, kann sagen: Craig Venter betreut künftig Hypochonder. Im Jahr 2000 hatten er und ein konkurrierendes Forscherteam die Entschlüsselung des kompletten menschlichen Genoms bekannt gegeben. Nun will er endlich das große Versprechen von damals einlösen: eine bessere Medizin. Sie soll Krankheiten gezielter behandeln – und vor allem erkennen, bevor sie ausbrechen. Zu dem Zweck gründete Venter die Firma Human Longevity Inc (HLI) und im Vorjahr das Angebot Health Nucleus.

Man könnte es durchaus als Hypochonder-Paket bezeichnen: Die Teilnehmer verbringen einen Tag in der Zentrale im kalifornischen La Jolla. Dort berichten sie zunächst einem Arzt in einer 90-Minuten-Sitzung ihre Krankengeschichte. Danach kommen sie in den Genuss von medizinischen Hightech-Verfahren wie einem Ganzkörper-MRT, 4D-Herzultraschall und natürlich der Analyse ihres kompletten Erbguts.

Anschließend gehen sie mit einem Brustband-Pulsmesser nach Hause und erfassen 14 Tage lang ihren Herzrhythmus. Eine Handy-App verrät ihnen am Ende, welche ihrer Gene mit möglichen Erkrankungen wichtiger Organe korrelieren. 25000 US-Dollar kostet das Angebot. Bisher haben sich schon 220 Teilnehmer gefunden. "Unser Ziel ist es, künftig Erkrankungen aufgrund des genetischen Codes bereits vor ihrem Ausbruch vorhersagen zu können", sagt Venter.

Das sind große Worte, und wem sie bekannt vorkommen, liegt richtig. Schon einmal versprach die Wissenschaft das wunderbare Zeitalter der personalisierten Medizin, und das Erbgut sollte der Schlüssel sein. Forscher wollten endlich jene großen Leiden lindern, auf die es nach wie vor kaum gute Antworten gibt: Herz-Kreislauf-Krankheiten, Alzheimer und Krebs. Am Ende allerdings blieb die Revolution aus. Das Genom ist komplizierter als gedacht, direkte Zusammenhänge zwischen Geninformation und Krankheit ließen sich fast nie herstellen.

Nun allerdings erwacht die Hoffnung neu. Der Grund sind nicht nur drastisch gefallene Kosten für die Gensequenzierung, sondern auch eine immens gewachsene Computerleistung. Mit ihr lassen sich die Mengen an Erbinformationen auswerten. Aber noch wichtiger ist: Forscher können sie mit Gesundheitsinformationen der DNA-Spender verknüpfen, etwa den Krankengeschichten oder den Resultaten medizinischer Tests. Health Nucleus ist da nur ein kleiner Teil eines gigantischen Vorhabens.

Mindestens eine Million Genome will HLI sequenzieren, eine Arbeit, die wohl gut zehn Jahre dauert. 300 Millionen Dollar steckten Investoren in Venters Ansatz. Das Geld stammt unter anderem von dem Risikokapitalunternehmen GE Ventures, dem Pharmakonzern Celgene und Illumina, dem führenden Hersteller von Sequenziermaschinen. Hinzu kommen Partnerschaften mit dem britischen Pharmariesen AstraZeneca und der Roche-Tochter Genentech. Nun arbeiten bei HLI mehr als zwei Dutzend Maschinen rund um die Uhr.

Alle 15 Minuten entziffern sie ein menschliches Erbgut für nur 2000 Dollar. Die erste Etappe von 10500 Genomen ist bereits genommen. Heute passt die gesamte Anlage bequem in drei Räume. Im Jahr 2000 hatte das erste Genom eines Menschen noch 100 Millionen Dollar gekostet. Es dauerte neun Monate, und um die Daten aufzuarbeiten, war ein hausgroßer, 50 Millionen Dollar teurer Computer nötig.

Zwei Stockwerke über den Laboren von HLI sitzt Venter im Büro hinter seinem Schreibtisch. Gerade wurde der Amerikaner zum Mitglied der National Academy of Medicine berufen. Zu seinen Füßen schläft der braune Pudel Darwin, während Venter Bilder auf dem PC zeigt. Sein Team hat Gesichter auf der Basis genetischer Daten konstruiert. "Wir können ihre Züge vorhersagen, ihre Größe, ihren Body-Mass-Index, ihre Augen- und die Haarfarbe", sagt der Genforscher und bestaunt die Ähnlichkeit zwischen einer Rekonstruktion und einem Probandenfoto. Für Venter ist dies jedoch nur ein kleiner Hinweis auf die tatsächlichen Möglichkeiten der Genetik.

Der 70-Jährige war zugegeben schon immer gut darin, Marketing in eigener Sache zu machen. Aber immerhin weiß er aus eigener Erfahrung, wie schwer belastbare Zusammenhänge zwischen Genen und Krankheiten herzustellen sind. Eine von ihm entdeckte Variante des CETP-Gens (Cholesterylester-Transferprotein) ist etwa mit gesundheitsfördernden Cholesterin-Blutspiegeln und einem geringeren Herzinfarkt- wie Schlaganfallrisiko in Verbindung gebracht worden. Doch alle Firmen, die um die Jahrtausendwende versuchten, auf dieser Basis den Cholesterinspiegel zu senken, scheiterten. "Einfache Korrelationen führen nicht immer zum Erfolg", sagt Venter. "Das ganze Forschungsfeld lernt momentan, dass die Zusammenhänge komplexer sind."

Venter will sie nun entschlüsseln – und ist nicht der Einzige. Weltweit befinden sich Forscher auf einem Datenfeldzug. Zu den Erbgutanalysen hinzukommen sollen Informationen über Umweltfaktoren, Verhalten, medizinische Untersuchungen sowie Aufzeichnungen, die Rückschlüsse auf Arzneimittelreaktionen erlauben. Die von US-Präsident Barack Obama Anfang 2016 initiierte Precision Medicine Initiative will eine Million Genome mit entsprechenden Gesundheitsdaten verlinken. Das amerikanische Million Veteran Program hat bereits mehr als 500000 Datensätze für diesen Zweck archiviert. In Europa geht das Gesundheitswesen einen ähnlichen Weg: Seit 2011 vernetzen große Kliniken aus 17 Ländern ihre Proben- und Datenbestände.

Ziel ist es, krankheitsrelevante Gene, Proteine und Stoffwechselmarker in Blut und Gewebe von Patienten zu finden und in der Biobanking and Biomolecular Resources Research Infrastructure (BBMRI) zu sammeln: Daten aus 4,5 Millionen Blut- und Gewebeproben liegen bereits vor. Die Hoffnung ist, Muster in dem Meer einzelner Datenpunkte zu erkennen und Ärzten bessere Therapieentscheidungen zu ermöglichen. Was Datenschützer nervös macht, halten viele Genetiker und Mediziner für ausgesprochen sinnvoll. "Alles, was wir detailliert messen und in ein Modell des Patienten übersetzen können, ist extrem nützlich", sagt Hans Lehrach, ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Molekulare Genetik in Berlin. "Ich möchte nicht wissen, wie viele Menschen in Deutschland schon am Datenschutz gestorben sind."

Auch der US-Biomathematiker Eric Schadt sieht in der Verbindung zwischen individuellen Gesundheitsdaten und Erbinformationen den Schlüssel für eine bessere Medizin. Der Spezialist vom New Yorker Mount Sinai Hospital war unter anderem am Resilience-Projekt beteiligt, das genetisch bedingte seltene Kinderkrankheiten erforschte. Man wollte Personen finden, die den Gendefekt zwar tragen, aber nicht erkrankt sind. Die Hoffnung waren neue Therapieansätze. Gendaten von 600.000 erwachsenen Personen erhielten die Forscher dafür von Einrichtungen wie dem Sequenzieranbieter 23andMe, dem Beijing Genomics Institute und dem Bostoner Broad Institute. Am Ende hatten sie 13 "resiliente" Personen gefunden.

Trotzdem saß das Team in der Sackgasse: Es konnte das Ergebnis nicht überprüfen, weil die Spender ihre DNA anonym zur Verfügung gestellt hatten und nicht kontaktiert werden konnten.

Für Venters HLI ist die Ausgangslage besser. Es erhält von AstraZeneca 500000 anonymisierte DNA-Proben von Patienten, die an klinischen Tests des britischen Konzerns teilnehmen. "Erst die Fähigkeit, Sequenzunterschiede von Hunderttausenden Patienten zu erfassen, wird großen Einfluss auf unser Verständnis der Krankheit und des Ansprechens auf ein Medikament haben", sagt Ruth March, Leiterin von AstraZenecas Initiative zu Biomarkern und personalisierter Medizin.

Um die Datenmassen zu durchforsten, hat Venter im Jahr 2014 zunächst Franz Josef Och engagiert. Och war früher Chef des Teams für die maschinengestützte Übersetzung bei Google. Als er Ende September zu Grail wechselte, einer Tochter der Gensequenzierfirma Illumina, folgte ihm Amalio Telenti nach. Die Aufgabe der Spezialisten ist es, die verschiedenen medizinischen Datensätze miteinander in Beziehung zu setzen. Bei Alzheimerpatienten etwa beginne der Hippocampus schon Jahre vor den ersten Symptomen zu schrumpfen, so Och.

Durch einen maschinellen Abgleich zwischen Genomen und Hirnbildern ließen sich eventuell genetische Varianten aufdecken, die mit dem Alzheimer-Risiko in Beziehung stehen. Das könnte zu neuen Arzneien oder zu Verfahren der Früherkennung führen. Oder aber es lasse sich erklären, weshalb bei einigen Menschen mit hohem erblichen Risiko die Krankheit trotzdem nicht ausbreche. "Vielleicht gibt es bei ihnen andere genetische Veränderungen, die sie schützen", so Och. Ein weiteres wichtiges Ziel von HLI ist die Entwicklung von Krebsimpfstoffen, die auf das Erbgut des Patienten und dessen Tumor abgestimmt sind. Nach einer klassischen Therapie sollen Patienten laut HLI-Direktor Ken Bloom einen maßgeschneiderten Impfstoff erhalten, der sie vor einem Rückfall bewahrt.

Von Venters neuer Medizin wenig begeistert ist Arthur Caplan, Bioethikprofessor am Langone Medical Center der Universität New York. Für ihn stellt sich dabei eine grundlegende gesellschaftliche Frage: Wer soll die Untersuchungen und die personalisierte Medizin bezahlen, wenn Versicherungen die Kosten für einen genetischen Test samt Beratung nur in seltenen Fällen übernehmen? "Nur die Reichen können sich derzeit die Genomsequenzierung leisten", sagt Caplan.

Aber Venter kontert. Er hat bereits Versicherungsmathematiker eingestellt, die die Wirtschaftlichkeit des HLI-Ansatzes beweisen sollen. Selbst wenn das Verfahren 25000 US-Dollar pro Patient koste, sagt er, sei es günstiger als jene Hunderttausende, die für Chemotherapien und andere Behandlungen ausgegeben würden und am Ende doch kein Leben retteten: "Wie viele Fälle benötigt man, um festzustellen, dass es wirtschaftlicher ist, Krankheiten vorzubeugen anstatt sie zu behandeln?" Das stimmt – wenn Venter der Beweis gelingt, dass Human Longevity tatsächlich Krankheiten verhindern kann. (inwu)