Erfinder aus Zufall

Aus einem dreifachen Versehen entstand eine Vielzweckwaffe gegen Ölverschmutzungen. Nun ist die Idee als "Patent des Jahres" nominiert.

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Von
  • Stefan Ruzas

Um zu demonstrieren, was seine Erfindung kann, gießt Ernst Krendlinger einen halben Liter Altöl in ein Wasserbecken. Dann nimmt er zwei Hände seiner Spezialwatte, um das Öl aufzusaugen. Anschließend trinkt er einen Schluck Wasser aus dem Gefäß. "Wenn es vorher die Qualität von Trinkwasser hatte, dann hat es die jetzt auch", sagt er.

Wie es dazu kam, ist die Geschichte eines dreifachen Versehens – und eines Ruheständlers, dem so gar nicht nach Ruhestand zumute ist. Krendlinger hatte eigentlich schon mit seinem Berufsleben abgeschlossen: Vor acht Jahren war er als Laborleiter bei Hoechst im Alter von 55 Jahren in den Vorruhestand gegangen. Doch schon einen Tag später heuerte er bei Deurex an, einem Wachshersteller. Im Jahr 2011 unterliefen dort einem Mitarbeiter gleich drei Fehler auf einmal: Er hatte über Nacht eine Testmischung mit dem falschem Rohstoff, dem falschem Druck und der falschen Temperatur angesetzt. Am nächsten Morgen war die Produktionshalle im sachsen-anhaltinischen Elsteraue gefüllt mit Wattebergen.

"Zwei Jahre lang haben wir überlegt und getestet, was wir mit unserem Zufallsprodukt anstellen können", erzählt der promovierte Chemiker. Erst eine Flasche Salatöl seiner Frau Rosemarie brachte die Lösung. Die fluffige Wachswatte absorbierte das Öl ohne Rückstände und ohne umweltschädliche Lösungsmittel. Trennt man das Öl mit einer Zentrifuge ab, lässt sich die Watte sogar wiederverwenden. Möglich ist aber auch eine Verwertung als Brennstoff. Die Watte mit dem geschmeidigen Namen Pure war geboren.

Ein Zertifikat der Dekra Umwelt GmbH belegt, dass die Watte das 6,55-Fache ihres eigenen Gewichts an Öl aufnehmen kann. So reichen bei einem kleineren Ölunfall mit 100 Litern 15 Kilogramm Watte statt 200 Kilogramm des bislang üblichen Granulats. Wie das genau funktioniert, untersucht das Institut für Mikrosystemtechnik an der Uni Freiburg. "Das Öl wird durch Kapillarkräfte in die Watte eingezogen – so wie Wasser von Löschpapier, nur mit entgegengesetzter Polarität", erklärt Institutsleiter Jürgen Rühe. "Papierfasern bestehen aus Cellulose und sind sehr polar. Sie saugen polare Flüssigkeiten wie Wasser auf. Wachse sind unpolar und saugen daher unpolare Flüssigkeit auf – wie zum Beispiel Öl." Es sammle sich dann an den Kreuzungen einzelner Fasern in einer Art Manschette. "Da dieses Öl eine flüssige Phase darstellt, kann es auch durch Einwirken einer mechanischen Kraft wieder abgegeben werden", sagt Rühe. Qualitativ sei der Prozess "ganz gut verstanden", aber eine quantitative Beschreibung sei noch Gegenstand der aktuellen Forschung.

Mittlerweile steht Pure auf der "Liste der geprüften Ölbindemittel". 600 bis 700 Tonnen im Jahr produziert Deurex schon jetzt, zurzeit baut das Unternehmen eine zweite Produktionsanlage auf. Dabei sah es anfangs nicht gerade nach einem Erfolg aus: Sowohl das Deutsche als auch das Europäische Patentamt lehnten die Anmeldung der Erfindung ab. Also machte sich Krendlinger persönlich auf den Weg, um seine Wunderwatte den Patentexperten in München vorzuführen. Er bekam die Patentpapiere – und im September 2016 dann auch noch einen Anruf des zuständigen Prüfers aus Den Haag: Das Europäische Patentamt wolle die Idee zum "Patent des Jahres" nominieren.

Die Finalisten werden im April bekannt gegeben, die Verleihung des Europäischen Erfinderpreis findet im Juni 2017 in Venedig statt. Ob Krendlinger selbst zum Zuge kommt oder nicht: Seine Erfindung hat längst eine weltweite Karriere gestartet. Sie kam schon bei Ölverschmutzungen in Nigeria und beim Donau-Hochwasser zum Einsatz, Mineralölkonzerne von Mexiko bis China bestellen sie containerweise für ihre Förderplattformen, Feuerwehren und Technisches Hilfswerk zählen zu den Kunden. Auch Windräder sollen künftig durch Pure vor Ölverlust geschützt werden. Gemeinsam mit der Servicefirma Rotor Rope hat Deurex dazu einen wachsgefüllten Kragen entwickelt, der unterhalb der Gondel montiert wird. Die Umweltschutzorganisation "One Earth – One Ocean" (OEOO) hat sogar ein eigenes Schiff namens "Seekuh" gebaut, um die Weltmeere zu säubern. Mit einem langen, dicken Watteschlauch, der an Bord zwischendurch vom Öl befreit wird, fährt das Schiff so lange im Kreis, bis die Mission erfüllt ist. "Pure ist das einzige Bindemittel von Öl und Chemikalien, das mehrfach eingesetzt werden kann", sagt Umweltschützer Günther Bonin von OEOO. Gerade in armen Ländern wie Nigeria sei es zudem wichtig, dass Menschen das gewonnene Öl wieder verkaufen können. (bsc)