Kommentar: "24 Updates verfügbar", oder: Vom vermeintlich schnellen Altern der Software

Updates sind wichtig, Software sollte aktuell sein – das erklärt Herbert Braun zumindest IT-Phobikern in seinem Umfeld. Das Ranking des Google Play Stores setzt für Hersteller allerdings falsche Anreize, ist er sich sicher. Es fördert hohle App-Updates.

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  • Herbert Braun
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Oft fällt es mir beim Zubettgehen auf, wenn ich mein Tablet in die Hand nehme. Den größten Teil des Tages dämmert es im Flugzeugmodus vor sich hin, aber kaum hat es Zugang zur großen weiten Welt, will es Updates. Mal sind es sieben, mal elf, vielleicht auch mal 24 Apps, die nach einer neuen Version verlangen.

Es ist gut und wichtig, Software auf dem aktuellen Stand zu halten, das erzähle ich jedenfalls den IT-Phobikern im Bekanntenkreis immer. Ist es nicht ein angemessener Preis dafür, dass in zehn Minuten meiner Qualitätszeit Internet und WLAN dicht sind und der Tablet-Prozessor glüht? Android und iOS unterstützen inkrementelle Updates, was den Schmerz in Grenzen halten sollte – auch wenn ich das am heruntergeladenen Datenvolumen nicht erkennen kann.

Ich glaube an technischen Fortschritt. Allerdings sehe ich kaum welchen: Meistens kann ich nach so einer Update-Orgie keinen Unterschied zur alten Version erkennen. Funktionalen Neuerungen, die sich nicht im zweiten Untermenü von rechts verstecken, begegne ich mit staunender Ehrfurcht, selbst wenn es so ein Quatsch ist wie das jüngste WhatsApp-Feature. Vielleicht sind das ja alles wichtige Sicherheits-Updates, von deren Folgen ich nichts mitbekomme. Ich hoffe das, denn ich kann mich noch an Zeiten erinnern, als man über die Ökobilanz des Internet diskutierte. Anscheinend sind diese Probleme gelöst, denn sinnloser, exzessiver Traffic regt niemanden mehr auf.

Ein Kommentar von Herbert Braun

Herbert Braun ist Webentwickler und hat 2004 bei der c't angeheuert, wo er sich als Redakteur um Webtechniken, Browser und Online-Trends gekümmert hat. 2013 verließ er schweren Herzens (aber auf eigenen Wunsch) die Redaktion, um sich von Berlin aus als freier Autor und Webentwickler durchzuschlagen.

Eine kleine Stichprobe in Googles Play Store: 25 der 30 bestplatzierten "Top-Apps" wurden innerhalb der letzten 10 Tage aktualisiert. Ein einziges Spiel erschien zuletzt kurz vor Weihnachten.

Eine "Top-App" wird häufig aktualisiert. Anders gesagt: Es braucht häufige Updates, um eine Top-App zu werden, denn die Aktualisierungsfrequenz ist in den großen App-Stores der vielleicht wichtigste Ranking-Faktor, den man selbst kontrolliert. Wer ein paar Monate nicht an einer erfolgreichen App schraubt, kann zusehen, wie sie allmählich in die Tiefen des Long Tail hinunterrutscht.

Dahinter steckt die Vision einer sich ständig weiterentwickelnden Technik, in atemloser Frequenz beständig erneuert, niemals fertig. "Perpetual Beta" hieß dieses Prinzip in der Morgenröte des Web 2.0, das sich wie die Schule der Agilen Software-Entwicklung auf Eric Raymonds rebellisches "Release early, release often" berufen kann.

In der App-Economy wie auch in der Webentwicklung ist nicht vorgesehen, dass etwas fertig, stabil, ausgereift ist. Stagnation ist Stillstand. Dieser Innovationszwang bringt eine große Dynamik mit sich, von der wir alle profitieren. Der Preis dafür ist, dass über diesem Drang zum Immer-Mehr das Ziel aus den Augen gerät: dem Benutzer ein nützliches Werkzeug für einen bestimmten Zweck an die Hand zu geben, so einfach wie möglich, so kompliziert wie nötig.

Was passiert, wenn ein Produkt seine Form gefunden hat? Kann man einen Schraubenzieher verbessern? Ist es Fortschritt, wenn man ihn zum Multifunktionswerkzeug upgradet, ihn personalisiert, den Arbeitsfortschritt mit der Cloud synchronisiert – Kunden, die diesen Hammer benutzten, kauften auch Nägel?

Wir haben das längst verinnerlicht. Ein Projekt ist seit anderthalb Jahren nicht mehr aktualisiert worden? Dann muss es mausetot sein, nimm was anderes. GitHub fühlt einen "Pulse" der dort gehosteten Projekte und zeichnet anhand der Commit-Frequenz Lebenslinien. Noch ein paar Jahre, und Browser werden dreistellige Versionsnummern haben.

Software altert schneller als die Trendware vom Textil-Discounter, dafür gemacht, nach einer Saison weggeworfen zu werden: Das Alter allein ist schon ein unakzeptabler Makel. Nichts kann je so gut sein, dass es gut genug ist. Die beständige Weiterentwicklung als Selbstzweck in der App-Economy spiegelt das Wachstum um des Wachstums willen in der Wirtschaft.

Vielleicht ist es der Preis rasanten Fortschritts, über das Ziel hinauszuschießen und Unsinn zu produzieren. Vielleicht ist es aber auch ein Zeichen, dass die Branche, die sich gerade wieder zum Mobile World Congress trifft, nichts wirklich Neues mehr zu bieten hat und das Abbremsen zum Maintenance-Modus noch nicht geschafft hat. Sehen wir's positiv: Wenigstens entstehen so viele Arbeitsplätze in der IT. (kbe)