Schmerz, lass nach!

Die chemischen Verwandten des Opiums können Schmerzen so effektiv bekämpfen wie kaum ein anderes Mittel. Ihr großer Nachteil aber ist die Suchtgefahr. Forscher arbeiten daher an Alternativen.

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Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Adam Piore

Jedes Mal, wenn James Zadina eine neue Studie veröffentlicht oder über seine Forschung berichtet wird, fängt das Telefon in seinem Labor in New Orleans an zu klingeln. Zugleich fluten E-Mails seinen Posteingang. Die Nachrichten erreichen ihn von Menschen überall in den Vereinigten Staaten: "Die Anrufer erzählen von schrecklichen Schmerzen", sagt Zadina, Professor an der Tulane School of Medicine und Direktor des neurowissenschaftlichen Labors beim Southeast Louisiana Veterans Health Care System. "Sie fragen mich: ,Wann kommt Ihre Medizin?'", berichtet der Wissenschaftler. Aber er müsse sie vertrösten: "Ich kann Ihnen noch nichts geben. Ich arbeite, so schnell ich kann." Mehr könne er den Menschen nicht sagen: "Aber das ist schwierig."

TR 1/2017

(Bild: 

Technology Review 1/17

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Dieser Artikel stammt aus dem Januar-Heft von Technology Review. Weitere Themen der Ausgabe:

Seit 20 Jahren kämpft James Zadina an vorderster Front gegen einen alten Feind des Menschen: körperlichen Schmerz. Mittlerweile aber hat die Arbeit des Wissenschaftlers enorm an Dringlichkeit gewonnen. In den USA werden laut dem National Institute of Drug Addiction bis zu acht Prozent der Patienten süchtig, die wegen chronischer Schmerzen Betäubungsmittel auf Rezept erhalten. Denn viele der verschriebenen Mittel sind Opioide, chemische Verwandte des Heroins. Die durch sie verursachten Todesfälle nehmen längst epidemische Ausmaße an. 2014 starben in den USA mehr als 18000 Einwohner an Überdosen, etwa 50 Menschen am Tag. Das waren mehr als dreimal so viele wie noch 2011. Vertreter der Centers for Disease Control and Prevention haben das Ausmaß des Problems sogar mit der HIV-Epidemie in den 1980er-Jahren verglichen.

In Deutschland ist die Lage nicht ganz so ernst – aber ernst genug, um Auswege zu suchen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts kam es 2014 zu 143 Opioid-Toten. Die Verordnung dieser starken Schmerzmittel hat seit Beginn des Jahrtausends zugenommen. Die Barmer GEK geht in ihrem Arzneimittelreport von 2012 bei ihren Versicherten von 47587425 Tagesdosen für das Jahr 2011 aus, das war im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung um mehr als zwei Prozent. Besonders bedenklich sei, dass 2011 insgesamt 40,8 Prozent des Verordnungsvolumens unter den Versicherten der Barmer GEK auf Fentanyl fiel. 2015 starben dem Bundeskriminalamt zufolge 87 Menschen an einer Fentanyl-Vergiftung, sieben Prozent der Rauschgiftopfer.

Bei diesem Wirkstoff wird zwar vor einem "unkritischen Einsatz" gewarnt. "Die Versorgungsrealität scheint indes eine andere zu sein", heißt es im Report. Viele Patienten dürften Opioide verschrieben bekommen, obwohl sie bei ihrer Form von Schmerzen gar nicht helfen. Die Ursachen des Leidens sind zu vielschichtig, als dass ein einzelner Wirkstoff sie alle bekämpfen könnte. Zumindest in den USA gilt dies als ein Grund für die Suchtepidemie.

Der zweite Grund liegt in der Natur der Substanz. Der Neurowissenschaftler James Zadina arbeitet daher an einer neuen Art von Schmerzmitteln ohne schwere Nebenwirkungen. Auf den ersten Blick scheint das Problem unlösbar zu sein: Gerade jene Mechanismen, die für die phänomenale Wirkung verantwortlich sind, führen häufig zu Abhängigkeit und Missbrauch. Seit Jahrzehnten versuchen Forscher deshalb, "die süchtig machenden Eigenschaften von den schmerzlindernden zu trennen", sagt David Thomas, Mitarbeiter am National Institute on Drug Abuse der USA und Gründungsmitglied des NIH Pain Consortium.

Jetzt glaubt Zadina, dem Ziel näher zu kommen. Im vorigen Winter veröffentlichte er zusammen mit seinem Team in der Fachzeitschrift "Neuropharmacology" eine entscheidende Studie: Bei Versuchen mit Ratten gelang es den Forschern, Schmerzen zu behandeln, ohne die fünf häufigsten Nebenwirkungen von Opioiden zu provozieren. Dazu zählen neben der zunehmenden Toleranz und den motorischen Einschränkungen vor allem die Atemdepression, die häufigste Todesursache im Zusammenhang mit Opioiden.

Die Opioide entfalten ihre Wirkung im Gehirn. Erzeugen die peripheren Nerven Schmerzsignale, gelangen sie über das Rückenmark zum Gehirn. Erst dort nehmen wir den Schmerz wahr. Substanzen wie Heroin oder Morphium binden dort an die sogenannten μ-Rezeptoren und dämpfen auf diese Weise die Aktivität der Nervenzellen – und damit den Schmerz. "Opioide verändern nichts an der Quelle des Schmerzes, sie schalten nur seine Wahrnehmung im Gehirn ab", sagt Lewis Nelson, Professor für Notfallmedizin an der New York University School of Medicine.

Der Mechanismus ist sogar biologisch vorgesehen. Denn auch der Körper selbst besitzt Opioide, und auch sie binden an die μ-Rezeptoren. Diese natürlichen Signalstoffe schüttet der Körper zum Beispiel bei sportlicher Betätigung aus. Sie lösen etwa den sogenannten Läufer-Rausch (Runner's High) aus. Das Problem ist jedoch: Der Körper reagiert auf die natürlichen Substanzen offenbar anders als auf die künstlichen.

Den Grund dafür meinen Wissenschaftler mittlerweile zu kennen. Die Schmerzmittel aktivieren spezielle Zellen im zentralen Nervensystem, die Gliazellen. Diese beseitigen normalerweise Zellrückstände und helfen dabei, die Reaktion auf Verletzungen am zentralen Nervensystem zu regulieren. Werden sie jedoch aktiviert, produzieren sie Entzündungsstoffe und können mit dafür sorgen, dass der Körper mehr Schmerzsignale registriert. Viele Forscher sind der Meinung, dass genau die verstärkte Aktivierung von Gliazellen die gefährliche Toleranz bei der Einnahme von Opioiden bewirkt. Die Wirksamkeit des Wirkstoffs nimmt mit der Zeit ab, Patienten benötigen eine immer höhere Dosis, was die Opioide so gefährlich macht und zu den von Überdosen verursachten Toden führt.

Zadina will daher ein synthetisches Opioid entwickeln, das ähnlich wie die körpereigenen Substanzen die μ-Rezeptoren anspricht, ohne die Gliazellen zu aktivieren. Schon in den 1990er-Jahren hat der Forscher zusammen mit seinem Team eine bis dahin unbekannte Neurochemikalie im Gehirn isoliert, eine schmerzdämpfende Substanz, der sie die Bezeichnung Endomorphin gaben. Seither versuchen sie, synthetische Versionen davon zu perfektionieren.

Eine davon ist der Wirkstoff, den Zadina im vergangenen Winter an Ratten testete. Wie einige der vorherigen Versionen schien auch sie die Versuchstiere ebenso gut oder sogar besser von Schmerzen zu befreien als Morphium, ohne die schweren Nebenwirkungen auszulösen. Inzwischen verhandelt Zadina mit Investoren und Biotech-Unternehmen. Wenn er und seine Kollegen genügend Geld zusammen haben, um ein eigenes Unternehmen zu gründen, oder wenn sie eine Vereinbarung mit einem Lizenzierungspartner erzielen, wollen sie die Genehmigung für Frühphasenstudien mit Menschen beantragen. "Man weiß nie, bevor man es wirklich mit Menschen versucht", sagt er.

Zadinas Medikament würde vermutlich weiterhin die Belohnungszentren im Gehirn aktivieren und könnte einen leichten Rausch mit Suchtpotenzial auslösen. Beenden aber soll es die rasche Zunahme der Toleranz und damit auch die physischen Entzugserscheinungen, unter denen Patienten leiden, wenn sie eines der Opioide absetzen. (bsc)