Der Mann, der den Alkohol zähmt

David Nutt war der oberste Drogenberater der britischen Regierung. Aber die Ansichten des Psychoneuropharmakologen waren zu extrem. Jetzt arbeitet der Wissenschaftler an einem Alkoholersatz.

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Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Dieser Text-Ausschnitt ist der aktuellen Print-Ausgabe der Technology Review entnommen. Das Heft ist ab 24.4.2017 im gut sortierten Zeitschriftenhandel und im heise shop erhältlich.

"Ich hoffe, Sie mögen Bourbon“, sagt David Nutt und reicht mir ein Glas mit einer gelblich-braunen Flüssigkeit auf Eis. Der Whiskey schmeckt weniger stark nach Alkohol als erwartet. Das hat mehrere Gründe. Erstens ist gar kein Alkohol drin. Es ist laut Nutt ein sogenannter Alcosynth, der nur die angenehmen Effekte von Alkohol auslösen und selbst in größeren Mengen nicht schaden soll. Auch Schwindel, Übelkeit und der Kater sollen damit weitgehend der Vergangenheit angehören. Zweitens ist der Drink noch nicht fertig, Nutt feilt noch an den Alcosynths herum. Mit ihnen möchte der Psychiater und Psychopharmakologe, der am Imperial College London das Institut für Neuropsychopharmakologie leitet, die Trinkgewohnheiten der kommenden Generationen verändern.

Wir sitzen im Wohnzimmer seines großen Landhauses im 16000-Einwohner-Ort Keynsham, zweieinhalb Autostunden westlich von London, in dem Nutt mit seiner Frau, einem seiner vier Kinder und zwei Hunden lebt. Er hat frei, denn er arbeitet nur noch drei Tage die Woche im Imperial College. Trotzdem sei er produktiver denn je, sagt er.

Müsste der synthetische Bourbon aber nicht stärker schmecken, damit ihn die Konsumenten später einmal akzeptieren? Schließlich hat man durch vegane Burger gelernt, dass viele zwar auf Fleisch verzichten wollen, nicht aber auf den gewohnten Geschmack und Biss. „Sie schmecken nie wirklich den Alkohol, sondern immer das Aroma“, entgegnet Nutt. Bei anderen Alcosynths hätten die Testpersonen oft nicht erkannt, dass sie einen alkoholfreien Cocktail trinken. Der Forscher ist sich jedoch bewusst, dass er nicht jeden überzeugen kann. Erfahrene Trinker würden den Unterschied wohl merken. „Wir versuchen gar nicht, Alkohol komplett zu ersetzen“, sagt er. „Wir wollen jenen eine Alternative bieten, die gesünder leben wollen.“ Aber bis zur Marktreife „braucht es noch einiges an Forschung“, räumt Nutt ein.

Er würde sehr viel dafür geben, dass es glückt. „Alkohol ist für rund 3,3 Millionen vorzeitige Todesfälle im Jahr weltweit verantwortlich“, sagt Nutt. Das sind laut Weltgesundheitsorganisation WHO rund 5,9 Prozent aller Tode; an den Folgen des Tabakkonsums sterben jährlich etwa sechs Millionen Menschen. Der 66-Jährige mit dem dünnen Schnauzbart wirkt jünger, als er ist. Er wird während des Gesprächs nie laut, als wolle er keine Energie darauf verschwenden, sich aufzuregen. Trotzdem wird klar, wie sehr ihn das Thema umtreibt: die Menschen, deren Leben Alkohol zerstört. Die Regierung, die nichts dagegen unternimmt. Die Getränkeindustrie, die Folgeerscheinungen als Schwäche von wenigen Anfälligen herunterspielt. Laut Nutt hat die Branche aus den Fehlern der Zigarettenindustrie gelernt und räumt ein, dass Alkohol süchtig machen und schaden kann. Aber nach wie vor predige sie: Wer verantwortlich damit umgehe, schade weder sich noch anderen.

David Nutt sieht das anders, und den Grund dafür führt er auf seinen ersten Abend an der University of Cambridge zurück. Als frischgebackener Medizinstudent ging er mit acht Kommilitonen feiern. Drei von ihnen betranken sich so stark, dass sie ganz andere Menschen wurden. Er war entsetzt und fasziniert zugleich: „Was passiert dabei im Gehirn?“ Inzwischen forscht er seit mehr als 40 Jahren über die Macht von Alkohol und anderen Drogen.

Seine Ergebnisse waren nicht immer willkommen. 2009 wagte er die These, dass die Partydroge Ecstasy nicht gefährlicher als Reiten sei. Einige Monate später feuerte der damalige Innenminister Alan Johnson ihn dann als Leiter des Beratungsgremiums für Drogenmissbrauch der britischen Regierung.

Der Anstoß zum Vergleich kam von einer seiner Patientinnen: Sie hatte von einem Reitunfall schwere Kopfverletzungen und Persönlichkeitsveränderungen davongetragen. Nutts wissenschaftliche Neugier war geweckt. Er wollte wissen, wie schädlich die als so gesund geltende Sportart ist. Seine provokante Rechnung ging so: Beim Konsum von 60 Millionen Ecstasy-Pillen im Jahr komme es nur in jedem zehntausendsten Fall zu schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden. Beim Reiten veranschlagte Nutt, dass es in Großbritannien bei jährlich etwa zwei Millionen Reitstunden schon alle 350 Stunden zu schweren Schäden komme.

Er wollte damit kritisieren, dass Großbritannien Drogen nicht anhand wissenschaftlich belegbarer Schäden klassifiziert, sondern den Besitz und Verkauf von unterschiedlich schädlichen Drogen gleich hart bestraft. Denn der Mediziner bezweifelt die Macht der Abschreckung und plädiert für Strafen, die sich nach dem Schadenspotenzial richten. Ob eine Substanz abhängig macht oder nicht, ist für ihn zweitrangig. Wichtig sei, welche Gesundheitsschäden der Missbrauch nach sich ziehe und was mehr Leben koste.

(inwu)