Goldgräber im Wissensschatz

Computer wühlen sich durch riesige Datenmengen und unterstützen Menschen bei der Entscheidungsfindung – auch in Fabriken.

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Von
  • Bernd Müller

"Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß." Dieser Satz wird dem ehemaligen Chef des Elektrokonzerns, Heinrich von Pierer, zugeschrieben. Der wollte damit zum Ausdruck bringen, dass die Mitarbeiter des Unternehmens einen riesigen Wissensschatz hüten, diesen aber zu oft für sich behalten oder Dinge neu entwickeln müssen, die ein Kollege in einem anderen Geschäftsbereich längst erfunden hat. Pierer vermutete, dass das Rad bei Siemens zu oft neu erfunden werde.

Was folgte, waren Versuche, den verborgenen Wissensschatz zu heben. Die Jahre zwischen 2000 und 2005 gelten als die goldenen Jahre des Wissensmanagements. Die Idee: Die Mitarbeiter machen ihr implizites Wissen – ihr Know-how, das in ihrem Gehirn steckt – zu explizitem Wissen, das sie zu diesem Zweck in Datenbanken eingeben, um es so Kollegen zugänglich zu machen.

"Dieser klassische Ansatz des Wissensmanagements ist weder effizient noch praktikabel", sagt der Datenwissenschaftler Daniel Fallmann. Weder hätten die Mitarbeiter bei Siemens oder anderen Unternehmen den Mehrwert verstanden und genügend Anreiz gespürt, ihr Wissen nachhaltig zu dokumentieren. Noch sei es mit den Softwarewerkzeugen gelungen, das angehäufte Wissen so zu strukturieren, dass es andere leicht nutzen konnten. Weil die Diagnose des Siemens-Chefs aber durchaus einen wahren Kern hatte, überlegte sich Fallmann, wie man es besser machen könnte. Das war die Geburtsidee von Mindbreeze. 2005 von Fallmann gegründet, entwickelt das österreichische Unternehmen Softwarewerkzeuge, die vorhandenes explizites und in digitaler Form vorliegendes Wissen durchsuchen, daraus sinnvolle Schlüsse ziehen und aus dem Verhalten der Nutzer lernen. "Enterprise Search" heißt das Feld, mit dem sich heute zahlreiche Firmen aus der Schnittmenge von Softwareentwicklung, künstlicher Intelligenz und Suchmaschinentechnologie befassen.

Ein typischer Fall für Mindbreeze: Ein Kunde ruft bei der Kundenbetreuung etwa einer Bank an. Der Berater will nun in Sekundenschnelle wissen: Welche Verträge hat der Kunde, hat er einen Kredit laufen, hat er seine Rechnungen bezahlt, ist eine Anfrage offen? Alle diese Informationen musste der Berater bisher aus verschiedenen Datenbanken heraussuchen, etwa die Stammdaten wie Adresse aus dem Customer-Relationship-Management, die offenen Rechnungen aus dem SAP-System, oft sind ein halbes Dutzend Datenbanken beteiligt. Mindbreeze durchsucht ständig alle diese Informationsquellen und liefert auf die Anfrage des Mitarbeiters auf Knopfdruck eine 360-Grad-Ansicht auf den Bildschirm, also alle Informationen, die der Mitarbeiter in diesem Moment zur Beantwortung der Anfrage benötigt. Aber auch nicht mehr. Mindbreeze berücksichtigt automatisch die Zugriffsrechte, jeder Mitarbeiter sieht nur, was er sehen darf.

Um den Kunden den Einstieg so einfach wie möglich zu machen, verkauft Mindbreeze seine Expertise als Komplettpaket aus Hard- und Software. Der Rechner wird ans Rechenzentrum des Kunden angedockt und wühlt sich selbstständig durch die Datenberge und stellt sinnvolle Verknüpfungen her, erkennt dabei auch Sätze und Bedeutungen, etwa ob die Nachricht eines Kunden eine harmlose Anfrage nach einem neuen Tarif ist oder eine saftige Beschwerde. Das hat etliche große Konzerne überzeugt, darunter Lufthansa Technik und Daimler AG.

Die größten Profiteure sind Handelskonzerne. In letzter Zeit interessieren sich aber immer mehr Industriebetriebe für Enterprise Search, zum Beispiel Maschinenbauer, die in der Flut von Maschinendaten zu ersticken drohen und sich fragen, was sie damit anfangen sollen. Dann können solche Werkzeuge helfen, Maschinendaten etwa mit Wartungsinformationen zu verknüpfen und dies für eine vorausschauende Reparatur zu nutzen.

Ist das schon Künstliche Intelligenz? "Die Technologie hat einen Riesensprung gemacht, wir stehen aber erst am Anfang der Künstlichen Intelligenz", sagt Daniel Fallmann. Von Intelligenz spricht auch IBM nur zögerlich, das mit seinem Watson-System Aufsehen erregt hat, als es 2011 Champions beim TV-Quiz Jeopardy an die Wand spielte. Watson ist ein kognitives Computersystem, das Bilder und Texte interpretieren kann, Sprache versteht, Kontexte analysiert und Antworten auf Fragen in natürlicher Sprache ausgibt. Das hilft zum Beispiel, wenn eine Maschine streikt. Statt sich durch Berge von Papier der Bedienungsanleitungen zu wälzen, findet Watson die benötigte Information in einem Augenblick und zwar aus unstrukturierten Daten, die 80 Prozent des weltweiten Datenaufkommens stellen. Watson "denkt" wie ein Mensch, verarbeitet dabei aber unvorstellbar viel mehr Informationen.

Watson hält nun auch Einzug in Fabrikhallen. So setzt Schaeffler auf die Watson-Internet-der-Dinge-Plattform. Die kognitiven Analysefähigkeiten von Watson will der Automobilzulieferer nutzen, um virtuelle Modelle zu bauen, schneller Entscheidungen zu treffen und generell Industrie 4.0 voranzutreiben. Watson unterstützt Werker an ihrem Arbeitsplatz, steuert smarte Maschinen oder sagt voraus, wann eine Maschine ausfallen wird.

Wenn Daten immer wichtiger und Maschinen immer intelligenter werden: Wo bleibt da noch Raum für die Menschen? Gerade der Mensch als Wissensarbeiter wird in der smarten Fabrik eine wesentliche Drehscheibe sein, meint Alexander Stocker, Wissenschaftler für Informationsmanagement am Kompetenzzentrum "Das Virtuelle Fahrzeug" in Graz. In einer Studie zum Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in der Smart Factory beschreiben Stocker und seine Kollegen mehrere Szenarien für eine menschzentrierte IKT. Ein Szenario ist das Produktionswissensmanagement. Für die Produktionshallen müssten die Werkzeuge zum Teilen von Wissen viel einfacher zu bedienen sein, fordern die Autoren. Ein Beispiel: Ein Meister kann mit einer Datenbrille einen Montagevorgang aufzeichnen, das Video würde dann automatisch am Arbeitsplatz des Werkers angezeigt, wenn der mit diesem Vorgang beauftragt wird. Ein weiteres Szenario ist mobiles Lernen in der Produktion. Die Idee ist, an jedem Ort zu jeder Zeit das jeweils gerade benötigte Wissen bereitzustellen. Besonders Augmented Reality, das Einblenden von Daten in eine reale Szene etwa auf einem Tablet, erfülle diese Anforderung.

Für Harriet Green, Teamleiterin des Watson-Projekts bei IBM, ist das erst der Anfang. "In zehn Jahren werden Maschinen pro Tag ein Brontobyte erzeugen – Bilder, Filme, Geräusche, Gerüche, Sensorinformationen aller Art. Dafür brauchen wir Systeme wie Watson, die aus diesen unstrukturierten Daten lernen und Menschen bei Entscheidungen unterstützen." Wer noch nie etwas von einem Brontobyte gehört hat – hier kommt die Auflösung: Bronto steht für eine Zahl mit 27 Nullen.

(jle)