Space Debris Conference: Wer mit Kanonen auf Satelliten schießt

Weltraummüll bewegt sich mit so hohen Geschwindigkeiten, dass sie in Experimenten nicht nachvollzogen werden können. Wie Wissenschaftler dennoch versuchen, "hypervelocity impacts" zu erforschen, darum ging es in Darmstadt.

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Space Debris Conference: Wer mit Kanonen auf Satelliten schießt

Einschlagspuren auf einem Solarpanel des Esa-Satelliten Eureca

(Bild: ESA/Nasa)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Hans-Arthur Marsiske
Inhaltsverzeichnis

Die erste kosmische Geschwindigkeit, bei der ein Objekt nicht mehr zur Erde zurückfällt, sondern in einer Umlaufbahn bleibt, liegt bei 7,9 Kilometern pro Sekunde. Bei 11,2 km/s ist die zweite kosmische Geschwindigkeit erreicht, mit der das Objekt dem Schwerefeld der Erde entkommt und in den interplanetaren Raum vordringt. Mit diesen Geschwindigkeiten müssen Raumfahrtingenieure rechnen, wenn sie das Verhalten von Weltraummüll und die Folgen möglicher Kollisionen abschätzen wollen. Auf der 7th Space Debris Conference in Darmstadt beschäftigten sich mehrere Vorträge mit Forschungen zu solchen "hypervelocity impacts".

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In der Regel werden Satelliten in einen rechtläufigen Orbit gebracht, bewegen sich also in der gleichen Richtung wie die rotierende Erdkugel. Einige umrunden die Erde aber auch in gegenläufigen Umlaufbahnen, sodass theoretisch Kollisionen mit Relativgeschwindigkeiten bis zu 16 km/s möglich sind. "So hohe Geschwindigkeiten können wir im Labor nicht erzeugen", sagt Martin Schimmerohn vom Fraunhofer Ernst-Mach-Institut (EMI). Wohl aber lassen sich Tests durchführen, bei denen ein bis mehrere Millimeter große Aluminiumkugeln mit 8 bis 10 km/s auf Metallscheiben abgefeuert werden.

Das gelingt mit Leichtgaskanonen: Hierbei wird der Impuls einer konventionellen Treibladung aus Nitrozellulose, deren vergleichsweise schwere Explosionsgase sich mit 2 bis 3 km/sek ausbreiten, auf ein leichteres Gas, idealerweise Wasserstoff übertragen, das sich so auf höhere Geschwindigkeiten beschleunigen lässt. "Wir arbeiten zumeist im Bereich von acht km/s", sagt Schimmerohn. "Bei höheren Geschwindigkeiten wird die Druckbelastung so hoch, dass die Versuchsanlage beschädigt wird und wir die Leichtgaskanone nach jedem Versuch erneuern müssten." Die größte beim EMI verwendete Kanone ist etwa 30 Meter lang. Ähnlich wie bei Raketen werden die Projektile in mehreren Stufen beschleunigt.

Die Experimente sollen helfen, Kollisionen von Weltraummüll im Erdorbit besser zu verstehen. "Bei so hohen Geschwindigkeiten, wenn der erzeugte Druck die Festigkeit des Materials um ein Vielfaches übersteigt, verhalten sich Festkörper wie Flüssigkeiten", trug Schimmerohns Kollege Martin Oliver Steinhauser vor. Das könne mithilfe der Kontinuumsdynamik modelliert werden, aber auch mit Verfahren der Teilchendynamik. Steinhauser favorisiert die Diskrete-Elemente-Methode, bei der die Festkörper aus vielen kleinen Kugeln bestehend modelliert werden. Auf diese Weise ließen sich Simulationen erzeugen, die sich dicht an den experimentellen Daten bewegen.

Am Johnson Space Center der Nasa wurde im April 2014 mit einer Leichtgaskanone ein 570 Gramm schwerer Aluminiumzylinder auf das Modell eines Satelliten abgefeuert, um detailliert zu untersuchen, wie ein Raumfahrzeug bei so einer Kollision zerfällt. Der Aufprall mit 6,8 km/s erzeugte über 200.000 Fragmente in der Größenordnung über zwei Millimeter – weit mehr als die erwarteten 85.000, wie Heather Cowardin von der University of Texas in El Paso berichtete. Die Auswertung des Experiments dauere noch an, sagte sie. Bislang seien 143.000 Fragmente eingesammelt und genauer bestimmt worden. Der Versuch dient unter anderem der Verbesserung des Standard Satellite Breakup Models (SSBM) der Nasa.

Mithilfe solcher Modelle lässt sich dann genauer vorhersehen, wann etwa der Einschlag eines Teilchens in einen unter Druck stehenden Tank nur zu einem kleinen Loch oder zu einer katastrophalen Explosion führt, wie William P. Schonberg von der Missouri University of Science and Technology erläuterte. Sie erleichtern auch die Einschätzung, welche Teile von Satelliten besonders gefährdet sind. Bei bemannten Raumfahrzeugen konzentriere er sich dabei auf die äußere Struktur, sagte Esfandiar Farahvashi von der etamax GmbH. Das sei für unbemannte Systeme jedoch nicht ausreichend, hier gelte es auch die Komponenten zu berücksichtigen. Simulationsverfahren wie Esabase2 oder Pirat könnten dabei helfen.

Vorhersehbar ist auf jeden Fall, dass die Bedrohung durch Weltraummüll über die kommenden Jahrzehnte bei der Gestaltung von Weltraummissionen eine wachsende Bedeutung bekommen wird. So berichtete J. Martin Ratliff vom Jet Propulsion Laboratory der Nasa von Überlegungen, wie die Radarsensoren auf dem indisch-amerikanischen Erdbeobachtungssatelliten NISAR am besten angebracht werden müssen, um die Funktion selbst bei einer Kollision mit Weltraummüll möglichst aufrecht erhalten zu können. Wie so oft bei komplexen Systemen erfordert das ein Abwägen. "Mehrere hintereinander geschichtete Metallplatten gewährleisten einen besseren Schutz gegen Einschläge als eine einzelne Platte", sagte Ratliff. "Aber sie verhindern auch, dass die von Radarsensoren erzeugte Hitze entweichen kann. Wir müssen den besten Kompromiss zwischen den sich widersprechenden Anforderungen finden." (anw)