Get Even angespielt: Im Labyrinth der Erinnerungen

Der interaktive Psychothriller Get Even entführt den Spieler in eine gruselige Nervenheilanstalt, in der er Patienten mit VR-Helmen begegnet und eine Teenager-Entführung aufdecken muss – eine außergewöhnliche Spielerfahrung.

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Get Even angespielt: Im Labyrinth der Erinnerungen

(Bild: heise)

Lesezeit: 5 Min.
Inhaltsverzeichnis

Es ist schwierig, einen Test über "Get Even" zu schreiben, ohne die Geschichte zu verraten und Spielern den Spaß zu verderben. Denn das ungewöhnliche Adventure vom polnischen Entwickler The Farm 51 lebt davon, dass der Spieler erst nach und nach aufdeckt, worum es in dem Spiel eigentlich geht.

Relativ früh wird klar, dass der Spieler offenbar eine Art Spezial-Agent ist, der auf den Namen Black hört. In einem verlassenen Militär-Komplex soll er nach einem entführten Mädchen suchen. Doch wie sich bald herausstellt, ist die Welt um ihn herum nicht real, sondern besteht aus Erinnerungen, die tief in Blacks Gehirn vergraben sind. Das Ausbuddeln dieser Erinnerungen ist Teil einer Therapie, die ihm ein mysteriöser Doktor namens Red verordnet. Red tritt nur als schemenhafte Figur mit verzerrter Stimme über Fernsehschirme auf. Er schickt Black auf eine Tour de Force durch eine düstere Nervenklinik, in der auch andere Insassen eingesperrt sind, die merkwürdige VR-Helme tragen.

Klingt verwirrend? Ist es auch!

Get Even (8 Bilder)

In der Nervenklinik gibt es auch andere Insassen, die wie Black einen merkwürdigen VR-Helm tragen.

(Bild: heise)

In der Klinik stöbert Black nach Fotos und Zeitungsartikeln, die nach und nach die Geschichte enthüllen. Offenbar hat er für einen Rüstungskonzern gearbeitet, der ein neuartiges Gewehr entwickelte, das um die Ecke schießen kann. Mit diesem Gewehr und einem speziellen Scanner ausgerüstet, bricht Black zu neun Missionen in seinen Erinnerungen auf. In ihnen muss er sich durch Bürogebäude kämpfen und über Friedhöfe schleichen, um sich mit seinem Scharfschützen-Arsenal einer Übermacht von Söldnern zur Wehr zu setzen. Dank seines Scanners sieht er die Position der Gegner stets auf einer elektronischen Karte. Mit einer Wärmekamera verfolgt er Stromleitungen, um Generatoren wieder in Gang zu setzen. Eine UV-Lampe macht Blutspuren und Fingerabdrücke sichtbar.

So deckt Black nach und nach das ganze Drama auf, in dem es um Industriespionage, Intrigen und zerplatzte Familienträume geht. Auch vor Blacks Privatleben macht das Spiel nicht Halt und schickt ihn durch surreale Albträume. Die geisterhaften Gestalten, deren Gesprächen er dort lauscht, werden als mysteriös wabernde Polygon-Figuren dargestellt.

Get Even lässt die Grenzen zwischen Traum und Realität immer wieder verschwimmen. So wechseln öfters die Räume: Wenn der Spieler sich zu einer Tür oder einer Wand umdreht, steht er unwillkürlich in einer ganz anderen Umgebung. Hier wird ein Computerspiel endlich einmal für Erzählformen genutzt, die in anderen Unterhaltungsmedien unmöglich sind. Allerdings ist dieser Konventionsbruch zuweilen schwer verdaulich.

So bizarr wie die Grafik ist auch der Sound. Komponist Olivier Drivière greift tief in die Trickkiste und untermalt die Handlung mit rhythmischen Türschlägen, drohnenhaften Summgeräuschen und melancholischen Klängen eines Sinfonie-Orchesters. Das Besondere: Tempo, Rhythmus und Frequenzen der Drohnen-Sounds werden von den Handlungen des Spielers getriggert. Dadurch baut der Soundtrack eine dramatische Spannung auf, je näher Black der nächsten großen Entdeckung oder dem Klimax in einem Kampf kommt. Wer einen geeigneten AV-Receiver hat, kann das ganze auch in Auro 3D hören.

Technisch kann Get Even nicht ganz mit großen Blockbustern wie dem ähnlich düsteren Thriller "Heavy Rain" mithalten. Hier und da wirkt das Spiel ungeschliffen. So bricht in einem Abschnitt ein völlig unpassender Pop-Song mit Mädchenstimme die düstere Stimmung auf. An zwei Stellen blieben wir während eines Komplettdurchgangs auf der PS4 Pro in Türrahmen stecken und mussten den Abschnitt neu starten.

Die Autoren gaben sich alle Mühe, die Story geheimnisvoll zu erzählen. Letztlich motiviert Get Even den Spieler aber zu wenig, alle Details restlos aufzudecken und seine Entscheidungen in einem wiederholten Durchgang zu revidieren. Zwar liefern die englischen Sprecher der Figuren theaterreife Leistungen ab, durch die verworrenen Text-Passagen lässt ihr Schicksal den Spieler jedoch kalt. Selbst Spieler mit guten Englischkenntnissen sollten die deutschen Untertitel einschalten, um den Faden nicht zu verlieren.

Trotz dieser kleineren Mängel fasziniert das 30-Euro-Spiel von Bandai Namco, denn eine vergleichbare Mixtur aus atmosphärischem Horror, Mystery-Detektiv-Puzzles und Sci-Fi-Schießereien hat es bislang noch nicht gegeben. Zum Ende hin wiederholt das Spiel zwar drei Missionen. Weil der Spieler den erneuten Durchgang jedoch durch die Augen eines anderen Protagonisten erlebt, spielt sich dieser Remix jedoch völlig anders und hält bis zum Finale die Spannung hoch.

Auf dem leichten von zwei Schwierigkeitsgraden stellen die Gefechte den Spieler vor keine besonderen Herausforderungen: Er kann die komplette Story in rund zehn Stunden an einem langen Wochenende durchspielen. Get Even trifft einen sehr speziellen Geschmack und entzieht sich gängiger Vorlieben und Konventionen. Daher richtet sich der undurchsichtige Thriller eher an reifere Erwachsene als an Teenager. Er wird sicherlich kontroverse Diskussionen auslösen, könnte aber bei seinen Fans zum Kultspiel avancieren. Schade ist nur, dass Get Even trotz seiner VR-Thematik selbst keine VR-Systeme unterstützt.

Get Even erscheint am 26. Mai für Windows, PS4 und Xbox One für 30 Euro. Wir haben die fertige Retail-Version, die der Hersteller uns vorab zur Verfügung stellte, auf der PS4 Pro gespielt. Update: