Wir sagen dir, woran du dich erinnerst

Der Mensch ist vergesslich. Daher sollen künftig digitale Helfer dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Wer aber bestimmt, an was wir uns erinnern?

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Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Eva Wolfangel

Dieser Text-Ausschnitt ist der aktuellen Print-Ausgabe der Technology Review entnommen. Das Heft ist ab 22.6.2017 im gut sortierten Zeitschriftenhandel und im heise shop erhältlich.

Gestern war der Tag ereignislos. Wie so oft hat Albrecht Schmidt die ganze Zeit am Computer gesessen. Ein Programm geschrieben, das am Ende nicht funktionierte. Mails getippt, Anträge begonnen. „Und abends fragt man sich: Was habe ich eigentlich getan?“, sagt der Stuttgarter Professor für Mensch-Maschine-Interaktion. Gerade Wissensarbeiter sind häufig frustriert, weil der Output ihrer Arbeit wenig sichtbar ist, das kann bis zu Depressionen führen. Aber war der Tag gestern tatsächlich ereignislos? Schmidts Laptop ist anderer Meinung: Er präsentiert ihm eine fünfminütige Diashow von Screenshots des Vortags, zwei Bilder jeder Minute, im extremen Zeitraffer zusammengeschnitten. Als Außenstehender bleibt man ratlos: Die Bilder laufen viel zu schnell. „Aber ich kann sehen, wie ich gearbeitet habe, was ich gemacht habe, wie schnell – und vor allem: Was ich gelernt habe“, sagt Schmidt. Beim Programmieren hat er einige Tutorials geschaut und vieles nachgeschlagen. Und er hat angefangen, eine Unterkunft für die Summer School zu suchen, und er wurde dabei unterbrochen. Auch das zeigt ihm die schnelle Zusammenfassung. „Das hätte ich vergessen“, sagt er, ebenso die angefangene Mail an den Dekan, die kurz erscheint und offenbar noch im Entwürfe-Ordner schlummert. „Die Erinnerung ist da, nur der Schlüssel dazu nicht immer“, sagt Schmidt.

So lässt sich der Informatikprofessor nun jeden Morgen die Bilder seiner gestrigen Arbeit liefern – und damit den Schlüssel zu seiner Erinnerung. Seine Software kann theoretisch jeden einzelnen Tastendruck auswerten, er könnte berechnen, für welche Aufgabe er wie lang brauchte. „Das sind extrem persönliche Daten“, sagt Schmidt. „Man kann damit messen, wie ich denke.“ Und gleichzeitig sind es extrem wertvolle Daten: Sie bringen die Hoffnung mit sich, nie wieder etwas zu vergessen. Denn die Technologie muss keineswegs auf Computer beschränkt bleiben. Wandert sie in Smartphones oder gar intelligente Brillen, ist das lückenlose Gedächtnis keine Vision mehr.

Forscher untersuchen bereits, wie sich die Technologie in großem Maßstab einsetzen lässt. Eines dieser Vorhaben war das EU-finanzierte Projekt Recall, und die Anlehnung an den Hollywood-Blockbuster mit Arnold Schwarzenegger ist nicht zufällig. Die Wissenschaftler statteten Probanden unter anderem mit kleinen Lifelogging-Kameras aus, die alle 30 Sekunden ein Foto aus der Perspektive der Träger schossen. Recall ging von der Erkenntnis aus, dass es Alzheimer-Patienten hilft, ihre Erinnerung zu stärken, wenn sie am Ende eines Tages eine kurze Zusammenfassung in Bildern bekommen. Die Wissenschaftler suchten nach Methoden, mit denen dies am besten gelingen würde. Ende 2016 wurde das Projekt abgeschlossen, und ein zentrales Ergebnis war, dass richtig aufbereitete Daten tatsächlich das Gedächtnis stärken können. „Schnell wurde klar, dass die Technologie auch gesunden Menschen helfen kann“, erklärt Schmidt, der ebenfalls an Recall beteiligt war.

Wie das aussieht, zeigt mir Passant El.Agroudy, eine Doktorandin von Schmidt. Über den Bildschirm laufen Aufnahmen ihres Gestern: eine Frühstücksschüssel, ein verschwommenes Bild aus den hinteren Reihen einer Vorlesung, Köpfe einer Besprechung, ein Park, ein wissenschaftliches Poster. El.Agroudy untersucht, wie sich Lifelogging-Daten sortieren lassen, damit sie unserer Erinnerung tatsächlich nutzen. Mit zwei Bildern pro Minute ergeben sich 1500 bis 2000 Bilder am Tag. Sie alle anzusehen, ergäbe keinen Sinn. In einem ersten Experiment präsentierte die Forscherin Probanden eine Zusammenfassung ihres Tages anhand von Ereignissen: Die Algorithmen erkannten, wann eine neue Situation beginnt, und zeigten abends von jedem Ereignis das technisch beste Bild. Tatsächlich erinnerten sich jene Probanden, die jeden Abend eine solche kurze Zusammenfassung sahen, auch am Ende der Woche an mehr Begebenheiten als die Kontrollgruppe – auch an jene, die nicht auf den Bildern zu sehen waren.

Das Ende der Möglichkeiten ist damit aber noch lange nicht erreicht. Daniel Sonntag vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz will im Projekt Kognit einen kleinen Roboter als eine Art Gedächtniserweiterung nutzen. Sonntag will damit erreichen, „dass ältere Menschen trotz zunehmender Vergesslichkeit länger zu Hause leben können“. Grundlage ist der Roboter Nao, ihn haben die Forscher unter anderem mit Tiefenkameras und einer Software zur Gesichtserkennung ausgestattet. Er soll künftig Patienten zunächst über ein bis zwei Jahre begleiten und dabei stets hinzulernen: Wie ist der Tagesablauf, wann sind Tabletten zu nehmen? Wer kommt zu Besuch? Wen kennt der Nutzer? In welchem Verhältnis steht er zu ihm? Kommt ein Besucher, bereitet der Roboter den Patienten vor: Wer ist das? Wieso ist er hier? „Eigentlich ist das eine einfache Sache“, sagt Sonntag. „Wenn man sich etwas nicht merken kann, schreibt man es auf.“ Eine smarte Brille kann solche Informationen in das Gesichtsfeld des Nutzers einblenden. Doch das System, dessen Alltagstauglichkeit er derzeit mit Studierenden testet, ist weit mehr als ein digitaler Notizzettel: Mit ihm ließe sich ein Superhirn schaffen, mit dem Nutzer nichts mehr vergessen und alle Begegnungen in Echtzeit verarbeiten würden.

(wst)