Der Futurist: Der letzte Computer

Was wäre, wenn man alle Verschlüsselungen knacken könnte?

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Als Kapitän Poulson auf dem Radar drei Punkte sah, die schnell näher kamen, war ihm sofort klar: Er hatte ein Problem. Später sollte sich herausstellen: Die ganze Welt hatte ein Problem.

Die nordkoreanischen Piraten hatten offenbar einen Tipp bekommen. Normalerweise trauten sie sich nicht an so riesige Containerschiffe heran. Aber sie mussten erfahren haben, dass sich unter den 23000 Containern an Bord einer befand, der praktisch jedes Risiko wert war.

Für Poulson und seine Crew ging die Sache glimpflich aus. Sie kamen nach wenigen Wochen wieder frei, gegen ein üppiges Lösegeld von 150 Bitcoins. Auch die meisten Container tauchten wieder auf. Doch der wertvollste blieb verschollen. Experten hofften, dass er zerstört wurde. Doch sie hofften vergebens.

Der Futurist

(Bild: 

Mario Wagner

)

"Was wäre, wenn ...": TR-Autor Jens Lubbadeh und die Redaktion lassen in der Science Fiction-Rubrik der Kreativität ihren freien Lauf und denken technologische Entwicklungen in kurzen Storys weiter.

Stephen McCray fiel als Erstem auf, dass etwas nicht stimmte. Er saß acht Monate nach der Schiffsentführung im 38. Stockwerk des Word Financial Centers in Luxemburg und verkaufte gerade Emissionsrechte in Milliardenhöhe an China. Doch das Geld kam nie an. Stattdessen landete es auf einem Konto in Nordkorea. McCray vermutete, dass die Nachricht seinen Chef in helle Aufregung versetzen würde. Doch der war zwar aschfahl, aber gefasst. "Haben sie ihn doch noch ans Laufen gekriegt…", murmelte er nur.

Es war eine Katastrophe mit Ansage. Schon seit den frühen 2010er-Jahren war allen Experten klar, dass Quantencomputer jegliche Verschlüsselung würden knacken können. Zuerst beruhigten sie sich damit, dass es noch Jahrzehnte dauern würde, bis sie einsatzreif waren. Bis dahin werden sich die Kryptologen schon etwas Neues einfallen lassen, hieß es. Als aber die Google-Tochter G-Wave dann früher als erwartet den ersten Quantencomputer vorstellte, war die einzige bekannte Gegenmaßnahme ein Schlüssel, der genauso lang war wie die Botschaft und per Post verschickt werden musste.

Das letzte Sicherheitsnetz war deshalb eine Ausfuhrkontrolle, die ähnlich streng war wie für Atomwaffen. Sie sollte sicherstellen, dass Quantencomputer niemals in die falschen Hände gelangten. Doch nun hatten ausgerechnet nordkoreanische Kriminelle eine G-Wave-Maschine erbeutet. Sie hatten damit Zugriff auf praktisch jede Finanztransaktion, jede Nachricht, jede Datenbankabfrage. Die großen Banken hatten immerhin schon einen rudimentären Plan B: Jets sausten quer über den Atlantik, um Schlüssel physikalisch zu übermitteln. Der Hochfrequenzhandel war natürlich augenblicklich tot, aber der normale Börsenhandel konnte aufrechterhalten werden – auch wenn nur noch einmal täglich ein Kurs gestellt wurde.

Härter traf es die Online-Händler. Bestellungen konnten nicht mehr online bezahlt werden, sondern nur noch per Nachnahme. Das dafür nötige Bargeld zu beschaffen war nicht einfach, denn auch die Bankautomaten waren auf eine funktionierende Verschlüsselung angewiesen. Kunden mussten sich also an einer langen Schlange bei einer der wenigen verbliebenen Bankfilialen anstellen, ein Papierformular ausfüllen und sich von einem Kassierer die Scheine vorzählen lassen. Dann konnten sie, dachten sich viele Kunden, auch gleich zum Händler um die Ecke gehen. Der lokale Handel blühte auf.

Die digitale Fabrik war hingegen ebenso tot wie das autonome Fahren oder das Smart Home. Zu den größten Verlierern zählte ironischerweise Google, denn die Menschen benutzten ihre Rechner nur noch offline und tauschten Daten zur Not per USB-Stick aus. Wer braucht da noch eine Suchmaschine? So beendete der mächtigste Computer aller Zeiten das Digitalzeitalter. (grh)