Ein Leben im Docuverse – zum 80. Geburtstag von Ted Nelson

Theodor Holm Nelson, der den Begriff Hypertext prägte (und dabei keineswegs das World Wide Web meinte), wird heute 80 Jahre alt. Ein Geburtsttagsständchen.

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Ein Leben im Docuverse – zum 80. Geburtstag von Ted Nelson

Die erste Xanadu-Skizze von 1972, abgedruckt in der 1987er Auflage von "Computer Lib / Dream Machines"

(Bild: Microsoft Press)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Detlef Borchers

Nelson prägte Begriffe wie Hypertext (1965) und Hypercoins (1970), das Bezahlen für "transklusive" Links mit Micropayment-Verfahren. Sein Hypertext-System Xanadu gehört zu den großen unvollendeten Projekten der Menschheit, denn schließlich hatte es das Ziel, das gesamte Textkorpus der Zivilisation als "Docuverse" zu umfassen.

Angesichts seines 80. Geburtstags am heutigen 17. Juni kann der stets streitbare Ted Nelson vielleicht gelassener als früher auf sein Werk blicken. Gegenüber dem deutschen Filmemacher Werner Herzog hatte er im Dokumentarfilm Lo and Behold: Reveries Of The Connected World (deutscher Titel: Wovon träumt das Internet?) 2016 auf seinem Hausboot davon gesprochen.

Die Jugend von "Ted" Nelson war nicht sonderlich erquicklich. Die Eltern, beide im Medien-Business beschäftigt, überließen die Erziehung des Jungen den Großeltern. Die Details dazu finden sich im Netz, wo Nelson diese Teile seiner großen Autobiographie Possiplex veröffentlicht hat. Seine Karriere begann, als der junge Soziologe seine Ideen zum "Hypertext" vortrug, zunächst am Vassar College, an dem er lehrte, dann bei der Association for Computing Machinery und der International Document Foundation. Das College, an dem er arbeite, quittierte seine Theorien mit eisigem Schweigen, schreibt Nelson.

Die Computerexperten waren hingegen begeistert und forderten ihn auf, ein solches Hypertext-System zu bauen. Genau das konnte der an ADHD leidende Nelson eben gerade nicht. Er hatte ein bisschen an IBM-Rechnern programmiert und das einflussreiche Sketchpad-Video von Ivan Sutherland gesehen. Grundlagenentwicklung war für den Überflieger ein Graus. Als er einen Ruf an die Universität Illionois erhielt, wo am Computersystem Plato gearbeitet wurde, lehnte Nelson angewidert ab und widmete seine Stipendiatszeit dem Schreiben von Büchern – so ist es jedenfalls in seiner Autobiografie zu lesen.

Das später von Mitch Kapor, Ed Belove and Jerry Kaplan entwickelte rudimentäre Hypertext-System Lotus Agenda für DOS fand Nelson entwürdigend. Hart fielen auch andere seiner Urteile aus: Als er in den 1960er-Jahren erfuhr, was Vannevar Bush mit Memex als Vorarbeit geleistet hatte, rief er ihn an – und brach allein schon wegen der "Sportlehrerstimme" Bushs den Kontakt ab.

Mit den in Illinois verfassten Büchern "Computer Lib: You can and must understand computers NOW", "Dream Machines" und "Computer Literacy" gelang Nelson der Durchbruch als "Geheimtipp für Computer-Hippies", wie es der Journalist Louis Rossetto anmerkte. Seine Ideen zu Xanadu, einem Hypertext mit Links, die auch zurückverlinken können, konnte er in ihnen am besten in seinen Zeichnungen ausführen. Aus dem Konvolut dieser Bücher gelang es seiner damaligen Sekretärin und heutigen Ehefrau Lauren Sarno, eine Kombination zu bilden, die 1987 unter dem Titel "Computer Lib / Dream Machines" als Neuauflage bei Microsoft Press erschien. Das Buch konnte umgedreht von hinten wie von vorne gelesen werden, ganz nach der Idee des Hypertextes. Glaubt man Nelson, waren seine Bücher gewissermaßen die Bibeln für Steve Jobs.

Die Entstehung der Personal Computer erlebte Ted Nelson als Zuschauer, die des World Wide Web als Kämpfer. So sehr er WWW-"Erfinder" Tim Berners als integren Menschen schätzte, so sehr war er entsetzt, wie sich dessen Ideen entwickelten. Niemand nahm den Unterschied zwischen den Verlinkungen von Berners-Lee und seiner Idee der "transklusiven" Links wahr, die auch zurück verlinkten und es obendrein zuließen, für jeden Link eine Micropayment-Aktion abzuwickeln. Nach einem Lob auf Berners-Lee heißt es darum in seiner Autobiographie: "Ich hasse HTML mit jeder Faser meines Körpers. Es scheint so, als es entwickelt wurde, alles zu vernichten, an was ich glaube. Ich habe 15 Jahre meines Lebens damit verbracht, HTML zu bekämpfen oder hinzuhalten." So brachte er sich um einen Anschluss an die neuen Entwicklungen.

Tief verletzt zeigte sich Nelson, als ein Porträt von ihm und Xanadu als "größter Vaporware der Branche" im Jahre 1995 in der Zeitschrift Wired erschien. Schließlich hatte Wired-Herausgeber Louis Rossetto ihn in der Vorgänger-Zeitschrift "Language Technology" mehrfach als Vordenker des Hypertexts gelobt und in eine Reihe mit McLuhan gestellt. Dabei konnte Nelson McLuhan nicht leiden, weil dieser für das "Docuverse" unter Xanadu kein Interesse zeigte.

Im Jahr 2009 setzte sich Nelson schließlich im Buch "Geeks Bearing Gifts" mit all seinen "Feinden" und Kritikern auseinander und schrieb: "In seiner klassischen Filmreihe Why we fight erklärte Frank Capra, dass unsere Gegner nicht schlechte, sondern in die Irre geleitete Menschen sind. In diesem Buch erkläre ich meinen Respekt für alle, denen ich mit ihren Meinungen und Erfolgen widerspreche, selbst wenn ich sie als völlig fehlgeleitet empfinde."

In diesem Sinne ist auch Respekt vor einem schrägen Außenseiter der Branche geboten, wie es ein Anderer bestens formulierte. (psz)