Technik- und Biomythen: Alle Kalorien machen gleich dick

Ob Fett, Zucker oder Eiweiß: Für das Körpergewicht zählt nur die Menge an Kalorien – nicht ihre Herkunft. Das stimmt so aber nicht.

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Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Robert Lustig ist gar nicht nach Spaßen zumute. "Das ist eine totale Katastrophe! Wir essen weniger Fett, aber mehr Zucker und werden alle krank." Am Benioff Children's Hospital der University of California in San Francisco behandelt er täglich stark übergewichtige Kinder. Lustig ist einer der prominentesten Gegner der These "Eine Kalorie ist eine Kalorie". Sein Vortrag "Sugar: The Bitter Truth", in dem der Kinderarzt und Spezialist für Hormonerkrankungen sein drastisches Urteil fällt, ist seit 2009 fast sieben Millionen Mal angeklickt worden. Darin erklärt er Zucker, insbesondere Fruchtzucker, zum Dickmacher Nummer eins.

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Dennoch lebt die Nahrungsmittelindustrie und vor allem die Zuckerwirtschaft immer noch gut von der Behauptung, dass die Quelle für unsere Kalorien egal sei. Wichtig sei die Menge. Ihr zufolge macht es keinen Unterschied, ob Kalorien aus Fetten, Kohlehydraten oder Proteinen stammen. Es komme nicht darauf an, was wir essen, sondern wie viel. Übergewicht wäre demnach das Ergebnis einer einfachen Gleichung: Ist die Kalorienzufuhr höher als die Kalorienverbrennung, nehmen wir zu.

So entstand die Empfehlung, dem Körpergewicht zuliebe weniger Fett zu sich zu nehmen. Denn nominell gewinnt der Körper aus einem Gramm Kohlenhydraten sowie Proteinen nur vier Kalorien an Energie, aus einem Gramm Fett dagegen neun. Hinzu kam die Entdeckung, dass Fett aus der Nahrung den Cholesterinspiegel im Blut erhöht – was mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfälle einhergeht. Ergo trat die fettarme Ernährung in den Siebzigern ihren Siegeszug rund um den Globus an, und die Nahrungsmittelindustrie hatte mit Light-Produkten einen neuen Markt.

Doch die Zahl der Übergewichtigen sank nicht – im Gegenteil. Und dieser Trend hält bis heute an. Für Lustig ist es kein Zufall, dass die Menge von Fruchtzucker (Fruktose) in Lebensmitteln just zu dem Zeitpunkt zunahm, als Fett an den Pranger gestellt wurde. Haushaltszucker besteht normalerweise zu gleichen Teilen aus Frucht- und Traubenzucker (Glukose). In dem 1975 auf den Markt gebrachten Maissirup wurde der Fruktoseanteil jedoch künstlich erhöht. Denn Fruktose schmeckt süßer als Glukose. Der Stoff ist zudem kostengünstig und überdeckt prima den faden Geschmack fettarmer Lebensmittel und macht Produkte haltbarer. Fruktose ist auch in Softdrinks, Fertiggerichten, Milchshakes, Speiseeis, Fitnessriegeln und Kinderlebensmitteln zu finden. In den USA wird der süße Stoff sogar Brot und Brezeln zugesetzt.

Doch genau diese Zuckervariante sieht Lustig als Hauptschuldige für die steigende Zahl Übergewichtiger an. Aßen Menschen früher nur 15 Gramm Fruktose pro Tag in Form von Obst und Gemüse, enthält der Tageskonsum von Jugendlichen in den USA heute pro Tag bis zu 75 Gramm. In solch großen Mengen mache Fruktose aber dick und sei zudem für viele Folgeprobleme wie Diabetes, Bluthochdruck und Fettleber verantwortlich. Kritiker wenden ein, dass Lustig bei seinen Schlussfolgerungen von einem sehr hohen Fruktose-Anteil von mindestens 30 Prozent in der Nahrung ausgeht. Darüber hinaus sehen der Schweizer Luc Tappy von der University of Lausanne und die Niederländer Fred Brouns sowie Vincent van Buul von der Maastricht University keinen eindeutigen Beleg für Fruktose als dem Hauptschuldigen.

Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass die Überschwemmung der Leber die entscheidende Rolle spielt: Wenn sie in zu großen Mengen Zucker oder gleichzeitig viel Fett und Zucker verarbeiten muss, geht sie in die Knie. Neue Studien sollen diesen Zusammenhang nun klären helfen.

Aber auch die Kritiker müssen zugeben: Große Mengen von zuckerreichen Softdrinks machen eindeutig dick. Zudem bestätigen immer mehr Studien Lustigs These. "Es ist entscheidend, wo die Kalorien herkommen", schrieben 2015 britische, südafrikanische und amerikanische Forscher um Aseem Malhotra im "British Journal of Sports Medicine". Wissenschaftler um Jim Mann von der neuseeländischen University of Otago werteten Dutzende von methodisch seriösen Studien aus. In der Summe fanden sie bei Erwachsenen einen signifikanten Zusammenhang zwischen erhöhtem Zuckerkonsum, hauptsächlich aus Softdrinks, und einer Gewichtszunahme. Umgekehrt nahmen die Probanden ab, wenn sie die Zuckermenge reduzierten. Als Fazit empfiehlt die WHO, dass Nahrungszucker weniger als zehn Prozent der Gesamtkalorienmenge betragen sollte.

Der Grund für die problematische Wirkung speziell der Fruktose liegt in der komplexen Biochemie des Körpers. Große Mengen an Fruktose machen nicht satt, sondern hungriger. Verantwortlich dafür ist zum einen das Hormon Ghrelin. Es bewirkt, dass wir Hunger verspüren. Essen wir, sinkt seine Menge im Blut normalerweise ab. Bei Fruktose aber funktioniert dieser Mechanismus nicht. Hinzu kommt eine zweite biochemische Kettenreaktion: Der eigentliche Brennstoff des Lebens ist Glukose, die der Körper durch zahlreiche Umwandlungen aus der Nahrung gewinnt. Damit immer für ausreichend Nachschub gesorgt wird, regelt unter anderem das Hormon Insulin den Glukosegehalt des Blutes. Ist ausreichend Traubenzucker vorhanden, bewirkt Insulin die Ausschüttung des Sättigungshormons Leptin.

Ganz anders bei Fruktose: Sie wird in der Leber direkt in Fett umgewandelt, löst daher keine Insulinausschüttung aus – und somit auch nicht die des Sättigungshormons. Fruktose macht aber nicht nur dick, sondern in großen Mengen auch krank: Dann führt der Fruchtzucker nämlich dazu, dass die Leber nicht mehr ausreichend auf Insulin reagiert. Dadurch kommt es oft zu Diabetes, Bluthochdruck und einer Fettstoffwechselstörung in der Leber. Zum anderen produziert die Bauchspeicheldrüse immer mehr Insulin, um die Resistenz zu überwinden – und ein Teufelskreis entsteht. "Der menschliche Körper ist nicht dafür gemacht, diese Zuckerart in so großen Mengen zu verarbeiten", sagt Michael Goran, Direktor des Childhood Obesity Research Centers an der University of Southern California in Los Angeles.

Von Natur aus nimmt der Mensch Fruchtzucker vor allem über Obst auf. Früchte besitzen jedoch eine Art Bremse, die vor übermäßigen Fruktosekonsum schützt: Ballaststoffe. Sie machen laut Lustig schneller satt und verhindern eine zu starke Insulinausschüttung. Kaum jemand würde also über Obst so viel Fruktose essen, wie er mittels Obstsäften oder Softdrinks konsumiert. Lustigs Erfahrung: Wenn man einen Großteil des Nahrungszuckers durch komplexere Kohlenhydrate wie Stärke ersetzt, ist die konsumierte Kalorienmenge zwar dieselbe.

Aber in einer Studie mit 43 übergewichtigen Kindern zeigten sich schon nach zehn Tagen bemerkenswerte Verbesserungen bei den Folgekrankheiten ihres Übergewichts. Ihre Werte für Triglyceride, die zu den Blutfetten gehören, sowie ihr diastolischer Blutdruck sanken deutlich. Damit nahm auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ab. Ebenso normalisierten sich die Blutzucker- und Insulinwerte, und das Diabetes-Risiko sank.

(bsc)