Technik- und Biomythen: Ein Mensch besteht überwiegend aus Bakterien

Zehnmal mehr Bakterienzellen als eigene sollen wir in uns tragen – eine viel zu hohe Schätzung. Die Bedeutung der Mini-Mitbewohner schmälert das allerdings nicht.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Wir sind in der Unterzahl in unserem eigenen Körper. Denn unsere Zellen machen nur ein Zehntel aller Bakterien- und anderer Mikrobenzellen aus, die wir hauptsächlich im Dickdarm, auf Schleimhäuten und der Haut beherbergen. Der Mensch als wandelnde Bakterienkolonie – die schöne Anekdote aus der Welt der Biologie macht seit Jahren gern die Runde. Nur leider stimmt sie nicht. Wie sich letztes Jahr herausgestellt hat, ist das Verhältnis 10:1 bei Weitem zu hoch gegriffen. Tatsächlich liegt das Verhältnis eher bei etwa 1,3:1, schrieben die israelischen Forscher Ron Milo und Shai Fuchs sowie der Kanadier Ron Sender.

TR 3/17

Zu dem Irrtum kam es überspitzt gesagt durch Faulheit. Sowohl die Zahl der Bakterien als auch die der menschlichen Zellen basierten auf groben Schätzungen einer einzelnen Veröffentlichung, die der US-Forscher Thomas Luckey 1972 publizierte. Seither haben viele sie munter zitiert, ohne die Behauptung erneut zu prüfen. Luckeys Bakterienzahlen fußten unter anderem auf der Untersuchung von einem Gramm Kot und der falschen Annahme, die Mikroben seien gleichmäßig im menschlichen Magen-Darm-Trakt verteilt. Milo und Kollegen entnahmen jetzt aus aktuellen Veröffentlichungen genauere Zahlen für die menschlichen Zellen. Sie berücksichtigten zudem, dass im Dickdarm überdurchschnittlich viele Bakterien zu finden sind.

Einige sind darunter, die das ganze System kräftig durcheinanderbringen können. So verursacht zum Beispiel das Schadbakterium Clostridium difficile schwere, zuweilen lebensbedrohliche Darmentzündungen und ist gegen fast alle Antibiotika resistent. Dieser Keim führt gewöhnlich ein Schattendasein im Darm. Er kann allerdings die Regie übernehmen, etwa wenn starke Antibiotika durch das Ökosystem des Darms fegen und die nützlichen Bakterien abtöten. Allerdings spielen die meisten unserer circa 39 Billionen Bakterien-Mitbewohner eine positive Rolle für unsere Gesundheit, so Milo und Kollegen.

Die Mikroben helfen uns längst nicht nur beim Verdauen. Sie produzieren auch Vitamine und den Nervenbotenstoff Serotonin – tatsächlich mehr als unser Gehirn selbst. Einige Darmbakterien sind sogar für unsere geistige Gesundheit unerlässlich. Im Gehirn fungieren sogenannte Mikroglia als eine Art Immunpolizei und beseitigen eingedrungene Keime und abgestorbene Nervenzellen. Dazu brauchen sie kurzkettige Fettsäuren, die als Abfallprodukte anfallen, wenn die Bakterien Ballaststoffe zersetzen. Forscher der Freiburger Universitätsklinik haben gezeigt, dass diese Mikroglia bei steril gehaltenen Mäusen verkümmern. "Wir haben viele physiologische Aufgaben an unsere Bakterien ausgelagert", kommentiert die Anthropologin Christina Warinner von der University Oklahoma.

Ihre Zusammensetzung variiert dabei je nach Umweltbedingungen. Ihre erste Bakteriendosis nehmen Menschen schon als Babys aus dem mütterlichen Geburtskanal mit. Sie ist für den Aufbau ihres Immunsystems wichtig. Diese Bakterienflora unterliegt im weiteren Leben einem ständigen Wandel – so verändern etwa Abstillen und Zahnentwicklung die Zusammensetzung. Auch über evolutionäre Zeiträume gesehen gab es immer wieder einschneidende Veränderungen, beispielsweise durch neue Essgewohnheiten wie nach dem Aufkommen von Landwirtschaft und Tierzucht.

Nicht immer geschah das zu unserem Besten: So sank die Vielfalt der Darmflora, Arten etwa, die Ballaststoffe abbauen, verschwanden. Deshalb, so vermuten Forscher, stieg die Zahl der entzündlichen Darmerkrankungen, von Diabetes und anderen metabolischen Krankheiten. Was zeigt: Wie immer das demografische Verhältnis zwischen Bakterien- und Menschenzellen auch ist – unsere Mikroben machen uns erst zu dem, was wir sind.

(bsc)