Die (Wieder-) Entdeckung der Langsamkeit

Vor allem den modernen Helden der Börsen-, Internet- und Wissenschaftswelt ist ihre Zeit Jahr um Jahr mehr verloren gegangen.

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Von
  • Basil Wegener
  • dpa

Wann die Sonne morgens aufging und abends wieder verschwand, war Alexander Samwer egal. Bis spät nachts spiegelte sich in den Augen des Jungunternehmers der blaue Schimmer seiner Computermonitore – typisch für die Workaholics der New Economy. "Das gehörte zum Aufbau und zur Atmosphäre einfach dazu", sagt Samwer. Heute sieht man den 26-jährigen Manager immer öfter im Grüngürtel Berlins beim Angeln und Bummeln. Samwer gehört zu den neuen Trödlern: Mit Lust auf Langsamkeit widersetzen sich immer mehr Menschen ständigem Stress und exaktem Timing.

Vor allem den modernen Helden der Börsen-, Internet- und Wissenschaftswelt ist ihre Zeit Jahr um Jahr mehr verloren gegangen. Ausgefeiltere Computer, Handys, Autos und Flugzeuge drücken weiter dröhnend aufs Tempo des täglichen Lebens. Die Folgen der Raserei werden sind drastisch: 77.000 Menschen starben 1999 in Deutschland an Herzinfarkt. Wer am Burnout-Syndrom leidet, kann sich in Spezialkliniken behandeln lassen. Eine der ersten deutschen Adressen ist die Kasseler Habichtswald-Klinik. Die Psychosomatische Abteilung ist immer ausgebucht. "Zu uns kommen viele Akademiker, Ärzte und Ingenieure", erzählt Chefarzt Christoph Kurtz von Aschoff: "Sehr sensible Leute."

Kann man dem ständig rotierenden Hamsterrad aus Besprechungen, Sport, Klavierunterricht, Einkaufen, Arbeit, Friseur, Seminar und Skiwochenende jedoch überhaupt entgehen? "Wir haben am Anfang gearbeitet wie im Rausch", sagt New-Economy-Veteran Samwer. Gemeinsam mit seinen zwei Brüdern leitet er die Jamba AG, die Internetzugänge auf Handys anbietet. Seinen 60 Mitarbeitern verschreibt Samwer heute regelmäßig Auszeiten: "Die Leute sollen ihre Freunde besuchen und Zeit zum Faulenzen haben." Energie schöpfen. Und Kreativität.

Erholte Mitarbeiter brächten Effizienz, bestätigt Zeitexperte Olaf Weber. "Manche wollen aber gar nicht effizient sein", gibt der Ästhetikprofessor an der Bauhaus-Universität in Weimar zu bedenken. Für ein Uni-Projekt "Entschleunigung" hat sich Weber in aller Ruhe in die Welt der Uhren und Kalender gestürzt. "Viele wollen mehr Zeit haben und sich selbst entdecken", sagt er. Eine Studentin entwarf einen Kalender, der statt Tagen nur Monate kennt. "Terminkalender zerhacken die Zeit in immer kleinere Einheiten", analysiert Weber. Nur für Tages-Ziele sei normalerweise Platz. In dem Kalender aus der Bauhaus-Universität sollen die Menschen dagegen große Ziele notieren.

Bislang ist nur eine starke Minderheit von dem Faszinosum Faulenzen überzeugt. So steigt die Quote der Handybesitzer in Deutschland nach Experteneinschätzung bald von derzeit 52 Prozent auf bis zu 80 Prozent. Im Jahr 2000 überstieg in Deutschland die Zahl der Fluggäste den Rekordwert von 143 Millionen. Ist der Stress eine Droge, mit der wir leben müssen? Europaweit haben sich Menschen in Gruppen zusammengeschlossen, um das Gegenteil zu beweisen. Gegen Hast beim Essen entstand Mitte der 80er Jahre in Italien die "Slow Food"-Bewegung. In Deutschland kommen heute rund 40 Regionalgruppen regelmäßig zu langem Kochen, Kosten und Genießen zusammen.

Eine ganz ruhige Erfolgsgeschichte ist auch der "Verein zur Verzögerung der Zeit", dessen Aktionen wie Demos für mehr Zeit seit seiner Gründung 1990 an der Universität Klagenfurt mit vielen bewundernden Artikeln bedacht wurde. Die Grundfrage an diesen Verein konnte jedoch noch kein Beobachter so recht beantworten, denn sie ist zu paradox: Welche Aktionen sind nötig, um die Zeit zu verzögern – und einmal gar nicht zu agieren?

Wirkliches Nichtstun, Nicht-Handeln, kann man im idyllischen Chiemgau-Ort Polling in Bayern lernen. Hier betreibt das Psychologen-Paar Margot und George Pennington sein Seminarhaus. Eine der Spezialitäten: "Zeitlupen"-Kurse. "In den fünf Tagen des Seminars gibt es keine Aufgaben außer Anziehen, Essen und Besprechen", sagt Pennington. Für den Gang zur sechs Meter entfernten Toilette ist hier eine Mindestzeit von 20 Minuten vorgeschrieben. Und pro Atemzug sollen die Teilnehmer nur ein Wort sprechen.

Aber ist es wirklich so süß, das Nichtstun? Manchen Gehetzten schafft Langsamkeit nur Gelegenheit für zähe Trägheit, dunkle Gefühle und marternde Selbstzweifel. Viele, sagt Pennington, wollen dem Geheimnis der Zeit lieber gar nicht auf den Grund gehen. "Sie bekommen es mit der Angst zu tun, ganz auf sich selbst zurückgeworfen zu werden." Vielleicht sollten sie sich in der wiedergefundenen Zeit Sten Nadolnys Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit" zu Gemüte führen. (Basil Wegener, dpa) / (jk)