Putin lässt den Bären los

Von der Ukraine bis zur US-Wahl: Russland trägt den Kampf um die internationale Vorherrschaft ins Internet. Die Desinformationskampagnen und Hackerangriffe gelten unter Militärexperten bereits als neue Art der Kriegsführung. Ist das übertrieben?

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Dieser Text-Ausschnitt ist der aktuellen Print-Ausgabe der Technology Review entnommen. Das Heft ist ab 17.8.2017 im gut sortierten Zeitschriftenhandel und im heise shop erhältlich.

Am 17. Juli 2014 – die Passagiere checkten auf dem Flughafen Amsterdam Schiphol gerade für Flug MH17 mit Malaysia Airlines ein – twitterte „Necro Mancer“ (@666_mancer) Informationen über einen ungewöhnlichen Konvoi fast 2500 Kilometer weiter östlich in der Ukraine. Sein Netzwerk hatte ein getarntes Flugabwehr-Raketensystem bemerkt, das auf einem Tieflader durch Donezk rumpelte.

Wenige Stunden später schoss eine Rakete den Flug MH17 ab und tötete 298 Menschen. Wer genau den Knopf gedrückt hat, ist bis heute unklar. Die Verstrickung der russischen Regierung ist jedoch mit Händen zu greifen. Doch der Kampf um die Deutungshoheit über das, was wirklich passiert ist, fing damit erst an. Auf der einen Seite der Front steht ein Staat, dessen Taktik darin besteht, seine Kritiker unglaubwürdig zu machen, immer neue Ablenkung zu produzieren und mit bezahlten Trollen und hochautomatisierten Netzwerken von Bots dafür zu sorgen, dass die Anschuldigungen und Ablenkungen massenhaft verbreitet werden. Gegen diese Front arbeitet eine Ad-hoc-Organisation von Freiwilligen, die soziale Netze als Ermittlungsinstrumente nutzen.

Der Fall MH17 ist eine düstere, aber nützliche Fallstudie darüber, wie das Internet zum Spielfeld einer Auseinandersetzung wird, die manche mittlerweile einen Krieg nennen. Ein Krieg, in dem Informationen sowohl Waffen als auch Ziele sind. Es bedurfte der Angriffe auf die US-Wahlen, um der westlichen Welt klarzumachen, wie gefährlich die Situation mittlerweile ist – und was eventuell noch droht. Auch Deutschland dürfte davon nicht verschont bleiben. Die Gefahr, dass Russland die öffentliche Meinung manipuliert, Stimmungen anheizt und damit sogar Wahlen beeinflusst, ist vorhanden.

Um das zu verstehen, lohnt der Blick zurück auf die Ereignisse vor drei Jahren: Genau eine Stunde vor dem Start von MH17 beschrieb Nero Mancer den Transport auf Twitter: „Es ähnelt stark einer Buk.“ Buks sind russische mobile Boden-Luft-Raketensysteme mittlerer Reichweite. Der Aktivist, der selbst aus Donezk stammt und sein Alter mit „etwa 50“ angibt, verbringt „nahezu all seine Freizeit“ mit dem Scannen beliebter russischsprachiger Social-Media-Sites wie Vkontakte („In Kontakt“), bekannt als „Russlands Facebook“, und Odnoklassniki („Klassenkameraden“). Er hört prorussische Funkkanäle auf der Walkie-Talkie-App Zello ab und teilt zivile Berichte über militärische Aktivitäten. „Ich kann nicht als Soldat kämpfen, also versuche ich auf diese Weise mein Bestes zu tun“, sagt er. Necro Mancer ist nur einer von vielen Freiwilligen, die sich an der Tastatur an einem Krieg beteiligen, der bisher mehr als 10000 Tote und Millionen Vertriebene verursacht hat. Ein Krieg, den der stellvertretende US-Verteidigungsminister Bob Work in einer Rede 2015 als „Labor für die Kriegsführung des 21. Jahrhunderts“ genannt hat.

Die 34 Tonnen schwere Buk-M1 TELAR (Das Kürzel steht für „Transporter-Aufrichter-Trägerrakete und Radar“) und seine Begleitung aus irregulären Truppen rollten durch die südöstliche Ecke der Ukraine. „Blutland“ nennt der Historiker Timothy Snyder aus Yale diesen Landstrich. Zwischen 1933 und 1945 sorgten die Nazis und die Sowjets für 14 Millionen zivile Tote. „In den Jahren, in denen sowohl Hitler als auch Stalin an der Macht waren“, schreibt Snyder, „wurden hier mehr Menschen getötet als irgendwo anders in Europa oder in der Welt.“

Eine halbe Stunde nach dem Start von MH17 meldete ein anderer ukrainischer Aktivist, @WowihaY, der Konvoi sei durch seine Heimatstadt Torez gefahren, 45 Meilen östlich von Donezk und in Richtung der Stadt Snischne. Dort wurde die Buk von einem weißen Volvo-Tieflader-Lkw entladen, um ihren Weg mit eigener Kraft nach Süden fortzusetzen. Nachdem Kontrollpunkte von russisch unterstützten Aufständischen passiert waren, wurde das System in einem Feld aufgestellt und feuerte um 4.20 Uhr Ortszeit eine 1500-Pfund-Rakete ab, die mit nahezu dreifacher Schallgeschwindigkeit auf 33000 Fuß Höhe stieg.

An Bord von Flug MH17 befanden sich 15 Crewmitglieder und 283 Passagiere, darunter 80 Kinder und eine Gruppe von Wissenschaftlern, die von Joep Lange geführt wurde, einem Virologen und ehemaligen Präsidenten der Internationalen Aids-Gesellschaft. Die Gruppe war auf dem Weg zur 20. internationalen Aids-Konferenz in Melbourne.

Die Rakete war mit einem 154 Pfund schweren Gefechtskopf bewaffnet. Der Gefechtskopf explodierte etwa vier Meter schräg links oberhalb der Nase des Flugzeugs. Bei Autopsien fanden Ermittler Hunderte von Metallfragmenten in der Leiche des Kapitäns, weitere 120 im Körper des Ersten Offiziers. Ein besonders auffälliges Fragment fanden die Ermittler im Körper eines Besatzungsmitglieds. Es war geformt wie eine Fliege – einzigartig für den Buk-M1-9N314M-Gefechtskopf.

Ein Sprecher der OSZE-Ermittler (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) nannte die Absturzstelle den „größten Tatort der Welt“.

Nur drei Tage vor dem Absturz hatte der „Bürgerjournalist“ Eliot Higgins die Betaphase seines Crowdfunding-Projekts Bellingcat gestartet. Bellingcat würde Open-Source-Informationen verwenden, versprach er, „um weltweite Fragen zu untersuchen und über Themen zu berichten, die unterrepräsentiert und von etablierten Medien ignoriert würden ... Syrien, Irak, Türkei, Kurdistan, Nigeria, Dschihadisten, der britische Telefon-Hacker-Skandal, Polizeikorruption und vieles mehr.“

Das „vieles mehr“ wurde schnell zum Absturz von MH17. Weniger als sechs Stunden nach dem Abschuss hatte Higgins ein Video gefunden, in dem die Buk, von einem einzelnen Fahrzeug begleitet, durch Snischne fuhr. Zwei Jahre später verwendet das niederländisch geführte internationale Untersuchungsteam (Joint Investigation Team, JIT) dieses Video in seinem Abschlussbericht.

Mit einem minimalen Budget, mit Beiträgen aus sozialen Netzen und frei verfügbaren Satellitenfotos produzierte das Bellingcat-Netzwerk seine Ergebnisse. In einer Reihe von Berichten identifizierten die Teilnehmer die Buk-Einheit Nummer 332 und das zugehörige Bataillon der 53. Flugabwehr-Raketen-Brigade in Russland. Sie verglichen Dutzende Buk-Fotos, die auf Vkontakte zwischen 2009 und 2013 geteilt wurden, und konzentrierten sich schließlich auf sieben charakteristische Merkmale. Dazu gehörten Ablagerungen von Auspuffgasen an der Karosserie, Beulen, die Anordnungen von Kabelverbindungen zum Raketenaufrichter, Beschriftungen und die Kombination von Hohl- und Speichenrädern der Fahrzeuge auf jeder Seite. Ein Bellingcat-Aktivist mit Geheimdiensthintergrund entwickelte eine innovative Art von „Fingerprinting“, um das Problem zu lösen, wie man zwei Fahrzeuge auf perspektivisch verzerrten Fotos vergleicht.

Bellingcat war auch die erste Gruppe, die öffentlich den Weg beschrieb, den die Buk bis Ende Juni nahm: In Russland, in der Ukraine vor, während und nach dem 17. Juli. Das Projekt hat seitdem mehrere Dutzend Soldaten der Einheit 32406 identifiziert durch Zusammenfügen von Inhalten und Freundeslisten auf Vkontakte und Querverweise mit Beiträgen auf einem Forum für die oft ängstlichen Mütter und Ehefrauen von Soldaten.

(wst)