"Missing Link": Den menschlichen Faktor ausschalten

Wir sind besessen – und umzingelt – von Apps und Geräten, die still und leise unsere Interaktion mit anderen Menschen reduzieren. Ein Essay des Musikers David Byrne.

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Missing Link: Den menschlichen Faktor ausschalten

(Bild: Jez Arnold / Flickr / cc-by-sa-2.0)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • David Byrne
Inhaltsverzeichnis

Ich habe die Theorie, dass Software-Entwicklung und technische Innovation seit etwa einem Jahrzehnt einer unausgesprochenen, übergreifenden Agenda folgen: eine Welt mit weniger menschlicher Interaktion. Diese Tendenz scheint mir – wie es so schön heißt – nicht als Bug, sondern als angebliches Feature daherzukommen. Man könnte beispielsweise glauben, Amazons Mission sei es, Bücher besser verfügbar zu machen. Und so war es anfangs auch gedacht, welch eine brillante Idee. Doch vielleicht geht es gleichzeitig auch darum, menschlichen Kontakt zu eliminieren. Dies ist vielleicht nicht das primäre, bewusst angestrebte Ziel. Aber überraschend oft kommt genau das dabei heraus.

Essay von David Byrne

"Technische Innovationen folgen einer unausgesprochenen Agenda: eine Welt mit weniger menschlichen Interaktionen", meint David Byrne. Er war als Frontmann der Talking Heads von 1975 bis 1991 erfolgreich. Parallel veröffentlicht er bis heute Soloalben. Anfang der 1990er-Jahre gründete Byrne mit Luaka Bop ein Label für Weltmusik. Byrne arbeitete auch mit Brian Eno bei mehreren Projektalben zusammen. Sein Titel "Like humans do" wurde 2001 als Musikbeispiel im Windows Media Player unter Windows XP ausgewählt. Byrne veröffentlichte Kunstbücher und war als Kolumnist für die New York Times tätig. Außerdem ist der Musiker als leidenschaftlicher Radfahrer bekannt und hat 2009 ein Buch mit dem Titel "Biycycle Diaries" publiziert. Eine Version dieses Artikels erschien ursprünglich auf seiner Website.

Die täglich auf uns niederprasselnden Tech-Nachrichten über Algorithmen, künstliche Intelligenz, Roboter und selbstfahrende Autos passen alle in das Muster. Ich bestreite nicht, dass diese Entwicklungen effizient und bequem sind. Ich frage mich nur, ob uns noch bewusst ist, dass es sich dabei nur um einen Weg von vielen handelt. Wir haben uns (möglicherweise unbewusst) für ihn entschieden. Wir könnten aber auch andere Wege einschlagen.

Ich selbst wuchs zwar glücklich auf, fand aber viele Formen sozialen Kontakts unangenehm. Ich bin generell glücklich damit, allein in einem Restaurant zu sitzen und zu lesen. Ich würde das nicht ständig machen wollen, habe aber kein Problem damit. Und doch bin ich mir der Blicke bewusst, die sagen: "Der arme Mann, er hat keine Freunde." Also glaube ich durchaus verstehen zu können, woher dieser unausgesprochene Drang kommen mag, menschliche Kommunikation zu reduzieren.

Aus der Sicht eines Ingenieurs erscheint menschliche Interaktion häufig kompliziert, ineffizient, laut und langsam. Einen Ablauf "reibungslos" zu gestalten bedeutet zwangsläufig auch, den menschlichen Faktor teilweise auszuschalten. Das muss nicht per se schlecht sein. Doch wenn man so viel Macht hat wie der Technologiesektor über den Teil der Menschheit, der sich damit nicht anfreunden kann, dann droht ein seltsames Ungleichgewicht. Die Welt der Technik ist überwiegend männlich geprägt. Testosteron kombiniert mit dem Streben nach Effizienz – eine solche Zukunft kann man sich leicht ausmalen.

Hier ein paar Beispiele:

  • Online-Bestellungen und Lieferung frei Haus: Amazon, FreshDirect und andere eliminieren nicht nur die Interaktion im Geschäft und in der Kassenschlange; sie schaffen jeden menschlichen Kontakt ab, ausgenommen die (oft bezahlten) Online-Empfehlungen anderer Verbraucher.
  • Digitale Musik: Bei Downloads und Streaming gibt es keinen physischen Laden, somit muss man sich auch nicht mit hochnäsigen, besserwisserischen Verkäufern herumschlagen. Einige Dienste bieten algorithmische Empfehlungen, man muss über die Musik also nicht einmal mehr mit Freunden diskutieren. Fällt damit die Funktion der Musik als eine Art sozialer Leim und Schmierstoff weg?
  • Taxi- und Mitfahr-Apps: Es findet nur minimale Interaktion statt. Man muss dem Fahrer weder das Ziel noch die bevorzugte Route mitteilen – oder überhaupt mit ihm interagieren, wenn man nicht will.
"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

  • Fahrerlose Autos: Sie zielen vor allem darauf ab, Taxi-, Lkw- und Lieferfahrer überflüssig zu machen. Maschinen fahren theoretisch zwar sicherer als Menschen. Zu den Nachteilen gehört aber massiver Arbeitsplatzverlust. Was ich hier erkenne, ist das konsequente Muster, Menschen zu verdrängen.
  • Automatisierte Kassen: Der Drogeriemarkt in meiner Nachbarschaft hat seine Mitarbeiter ausgebildet, uns Kunden bei der Benutzung automatischer Kassen zu helfen, die sie später ersetzen werden. Amazon hat Läden – sogar Lebensmittelgeschäfte! – mit automatisiertem Einkaufen getestet. Sensoren erfassen, was man in den Einkaufswagen legt. Dann spaziert man einfach aus dem Laden, während die Beträge vom Amazon-Konto abgezogen werden – ohne jeden menschlichen Kontakt.
  • Künstliche Intelligenz: KI übertrifft Menschen bei vielen Entscheidungen. Zum Beispiel findet sie die schnellste Route unter Berücksichtigung von Verkehrslage und Distanz, während wir Menschen gern bei der gewohnten Strecke bleiben. Oder sie entdeckt Melanome besser als viele Ärzte. Andere Computerprogramme werden künftig juristische Routinearbeit erledigen. Auch Prüfungen von Kreditanträgen führen inzwischen Maschinen durch. Roboter-Belegschaft: Fabriken haben zunehmend weniger menschliche Arbeiter. So gibt es keine persönlichen Eigenheiten zu bewältigen, keinen Streit um Überstunden und keinen Krankenstand. Der Einsatz von Robotern erspart Arbeitgebern die Sorge um Arbeitsunfälle, Versicherungen und Sozialabgaben.
  • Persönliche Assistenten: Dank verbesserter Spracherkennung kann man zunehmend mit Maschinen wie Google Home oder Amazon Echo sprechen – statt mit einer Person.
  • Big Data: Die Verarbeitung massiver Datenmengen identifiziert verborgene Muster in unserem Verhalten. Weil Daten objektiv scheinen, neigen wir dazu, ihnen zu vertrauen. Der nächste Schritt könnte sein, ihnen mehr zu trauen als uns selbst, unseren menschlichen Kollegen, unseren Freunden.
  • Videospiele und virtuelle Realität: Ja, einige Onlinespiele sind interaktiv. Aber die meisten werden in einem Raum von einer Person gespielt. Die Interaktion ist virtuell.
  • Massen-Onlinekurse (MOOCs): Online-Lernen ohne direkte Lehrer-Interaktion.
  • "Soziale" Medien: Facebook und andere Netzwerke vermitteln zwar erfolgreich den Eindruck, Verbindungen zu schaffen. Doch in Wahrheit bieten sie nur die Simulation echten Kontakts.