"Missing Link": Den menschlichen Faktor ausschalten

Seite 2: Soziale Netzwerke als Quelle von Unglück

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Reduzierte Interaktionen haben einige Folgeeffekte – manche gut, andere weniger. Für uns als Gesellschaft würden sie zu weniger Toleranz und Verständnis sowie zu mehr Neid und Gegensätzlichkeit führen. Wie sich zuletzt gezeigt hat, vergrößern soziale Netzwerke sogar Differenzen, indem sie uns erlauben, in kognitiven Filterblasen zu leben. So verringert sich in Wahrheit das Spektrum unserer Kontakte – es beschränkt sich auf die Mitglieder unserer eigenen Gruppe.

Soziale Netzwerke sind auch eine Quelle von Unglück. Anfang dieses Jahres zeigte eine Studie der Sozialwissenschaftler Holly Shakya und Nicholas Christakis, dass Menschen sich umso schlechter fühlen, je mehr sie Facebook nutzen. Somit behaupten diese Technologien, uns einander näher zu bringen, obwohl sie uns tatsächlich auseinandertreiben.

Ich bestreite nicht, dass viele dieser Tools bequem, clever und effizient sind. Viele von ihnen benutze ich selbst. Aber in gewissem Sinne stehen sie im Widerspruch zu dem, was uns Menschen ausmacht. Wir haben uns als soziale Kreaturen entwickelt. Unsere Kooperationsfähigkeit ist ein großer Faktor unseres Erfolgs. Werkzeuge können sie zwar erweitern, aber nicht ersetzen.

Werden menschliche Kontakte ungewohnt, verändert sich dadurch, wer und was wir sind. Oft suggeriert unser rationales Denken, Interaktionen ließen sich auf logische Entscheidungen reduzieren. Dabei sind uns viele Feinheiten dieser Interaktionen gar nicht bewusst. Wie die Verhaltensökonomie uns lehrt, handeln wir nicht rational, selbst wenn wir dies glauben. Und durch Interaktionen passen wir unser Bild von dem an, was um uns herum passiert und passieren wird.

Menschen sind launisch, unberechenbar, emotional, irrational und voreingenommen. Das wirkt oft kontraproduktiv. Ich glaube aber, dass sich viele dieser irrationalen Tendenzen am Ende trotzdem zu unserem Vorteil auswirken könnten. Emotionale Reaktionen haben sich über Jahrtausende entwickelt – basierend auf der Wahrscheinlichkeit, wie man am besten mit einer Situation umgeht.

TR 10/2017

(Bild: 

Technology Review 10/2017

)

Dieser Artikel stammt aus der Oktober-Ausgabe von Technology Review. Das Heft war ab dem 14. September 2017 im Handel und ist im heise shop erhältlich.

Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio schrieb über einen Patienten namens Elliot, der durch eine Schädigung seines Frontallappens emotional eingeschränkt war. In jeder anderen Hinsicht intelligent und gesund, befand er sich gefühlsmäßig auf einer Ebene mit Mr. Spock. Elliot brütete endlos über Details und konnte keine Entscheidungen treffen. Damasio schloss daraus, dass uns gerade die Emotionen ermöglichen, uns zu entscheiden.

Solange Menschen zu einem gewissen Grad unvorhersehbar sind (zumindest bis ein Algorithmus diese Illusion vollständig beseitigt), profitieren wir von Überraschungen, glücklichen Zufällen und unerwarteten Verbindungen. Zusammenarbeit vervielfacht diese Chancen. Außerdem machen unsere vielfältigen Missgeschicke und unser mitunter schräges Verhalten Spaß. Ich frage mich, was uns bleibt, wenn das wegfällt. Entfernt man den menschlichen Faktor aus der Gleichung, sind wir als Menschen und als Gesellschaft unvollständig. "Uns" gibt es nicht als isolierte Individuen. Wir sind Beziehungen. So wachsen und gedeihen wir.

(jle)