Vom Hirn zum Zwitschern

Forscher haben eine Schnittstelle entwickelt, die erkennt, welches Lied ein Vogel gleich singen wird. Der Ansatz könnte dazu führen, dass Menschen ganz ohne Tippen Nachrichten versenden können.

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Von
  • Antonio Regalado
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Unternehmer im Silicon Valley haben sich in diesem Jahr ein kühnes neues Ziel gesetzt: Sie wollen ein Gerät zum Auslesen von Hirnströmen entwickeln, über das sich Textnachrichten allein mit Hilfe von Gedanken versenden lassen. Das Vorhaben ist ambitioniert – und es gibt Gründe für die Annahme, dass es noch lange nicht realisiert wird. Doch zumindest für einen kleinen Vogel mit orangefarbenem Schnabel, den Zebrafinken, ist der Traum der Realität jetzt deutlich näher gerückt.

Der Grund dafür ist die Arbeit von Timothy Gentner und seinen Studenten an der University of California in San Diego. Sie haben eine "Hirn-zu-Schnabel"-Schnittstelle entwickelt, die einen Sekundenbruchteil, bevor der Vogel damit anfängt, weiß, welches Lied er singen wird.

"Wir decodieren einen realistischen künstlichen Vogelgesang auf der Grundlage neuronaler Aktivität", schreiben die Wissenschaftler in einem Bericht, der auf der Website BioRxiv veröffentlicht wurde. Das Team, zu dem unter anderem der argentinische Vogel-Experte Ezequiel Arneodo gehört, bezeichnet sein System als den ersten Prototypen für "einen Decoder für komplexe, natürliche Kommunikationssignale aus neuronaler Aktivität". Ein ähnlicher Ansatz könne auch zu Fortschritten auf dem Weg zu einem Gedanken-Interface für Menschen führen, schreiben die Forscher.

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Das Gehirn von Singvögeln ist nicht besonders groß. Aber ihre Vokallaute haben eine gewisse Ähnlichkeit mit menschlicher Sprache, die dafür sorgt, dass sie zu den Lieblingstieren von Forschern gehören, die Gedächtnis und Wahrnehmung untersuchen. Ihre Gesänge sind komplex. Und sie sind, wie die menschliche Sprache, erlernt. Der Zebrafink zum Beispiel lernt seine Rufe von älteren Vögeln.

Aktuelle Hirn-Schnittstellen für Menschen versuchen zumeist, neuronale Signale zu erfassen, die der vorgestellten Armbewegung einer Person entsprechen sollen; auf diese Weise lässt sich ein Roboter steuern oder ein Cursor, um damit sehr langsam Buchstaben auszuwählen. Die Vorstellung von einem Helm oder Hirnimplantat, das mühelos erfasst, was man sagen will, ist also längst noch nicht Realität.

Unmöglich aber wäre sie nicht, wie die neue Studie zeigt. Das Team an der Universität nutzte Silizium-Elektroden, um bei wachen Vögeln das Geplapper der Neuronen in einem Teil ihres Gehirns zu messen, der als sensorisch-motorischer Nukleus bezeichnet wird. In diesem Bereich "entstehen die Instruktionen, die zur Produktion gelernter Gesänge führen".

Bei dem Experiment wurde Software für neuronale Netze genutzt, eine Art von Maschinenlernen. In das Programm gaben die Forscher das Muster der feuernden Neuronen und dazu den dabei entstehenden Gesang ein, mit seinen Unterbrechungen und wechselnden Frequenzen. Die Idee dahinter war, dass die Software lernen sollte, beides aufeinander abzubilden. Die Forscher nennen das "Spektrum-Mapping von Neuronen zu Gesang".

Die größte Neuerung des Teams bestand darin, die Übersetzung von Hirnsignalen in Zwitschern mit Hilfe eines physikalischen Modells für das Erzeugen von Tönen in Finken zu vereinfachen. Vögel haben keine Stimmbänder wie Menschen. Stattdessen lassen sie Luft über eine vibrierende Oberfläche in ihrem Hals, genannt Syrinx, strömen. Das ist ungefähr so, wie wenn man ein hohes Heulen erzeugt, indem man zwei Stücke Papier zusammenhält und gegen ihre Kante bläst.

Das Endergebnis laut den Autoren: "Wir decodieren realistische künstliche Vogelgesänge direkt aus neuronaler Aktivität." In ihrem Bericht schreiben sie, ungefähr 30 Millisekunden vor dem Anfang voraussagen zu können, welches Lied ein Vogel singen wird.

Singvögel sind auch andernorts wichtige Forschungsmodelle. Bei Elon Musks Neuro-Unternehmen Neuralink wurden mit als Erstes Vogelkundler eingestellt. Und auch der Trick der kalifornischen Forscher, sich auf die Muskel-Bewegungen hinter den Vogellauten zu konzentrieren, könnte sich als entscheidende Entwicklung erweisen.

Facebook will erreichen, dass seine Nutzer mit einer Rate von 100 Worten pro Minute direkt aus ihrem Hirn tippen und so unbemerkt Nachrichten versenden können, wann immer sie wollen. Ein Gerät zum Ablesen der Kommandos, die das Gehirn an die Muskeln sendet, während man lautlos spricht, ist wahrscheinlicher deutlich leichter zu realisieren als eines, das tatsächlich "Gedanken liest".

Gentner und sein Team hoffen, dass ihre Finken das möglich machen werden. "Wir haben eine Schnittstelle für ein komplexes Kommunikationssignal mit einem Tiermodell für menschliche Sprache demonstriert", schreiben sie, und fügen hinzu: "Unser Ansatz ermöglicht zudem wertvolle Experimente für biomedizinische Sprach-Prothesegeräte".

(sma)