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Was war. Was wird. Außer Thesen nichts gewesen?

Mancher verschwindet, und alles jubelt. Mancher geht, und es ist Trauer. Das hängt nicht miteinander zusammen, grummelt Hal Faber. Aber es gehen immer die Falschen. Zumindest auf Dauer. Die Musik bleibt. Hoffentlich.

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Mikrofon, Faust

(Bild: Anton Eine, gemeinfrei (Creative Commons CC0))

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Alles hängt mit allem zusammen, nur eben falsch. Da haben wir also den wunderbaren Brückentag gehabt wegen dieser Reformation vor 500 Jahren, aber eben auch die Abkömmlinge der Protestanten in den USA, die Trump gewählt haben, im Mittleren Westen und den großen Ebenen, die Farmer und die Arbeiter in der Schwerindustrie. Da haben wir die 95 steilen Thesen der tageszeitung mit der wunderbaren These 21 amüsiert zur Kenntnis genommen ("Der Journalismus hat heute eine bessere Qualität als früher"), aber die wichtige These 12 überlesen: "Eine Woche Internetausfall wird die Welt retten". Eine Woche? Ganze elf Minuten hatte US-Präsident Donald Trump ein kündigungstechnisch bedingtes Tröteverbot auf Twitter, aber schon ist vom "großen Durchatmen" die Rede (Süddeutsche Zeitung). Tweets feiern einen amerikanischen Helden, der bei Twitter ein Zeichen gesetzt hat, und sprechen gar von einem Engel, der mit dem Gegenstück der Engelstrompeten zeigte, dass es einen Himmel gibt und nicht nur die Hölle der Laubbläser. Wobei, die Hoffnung ist bekanntlich ja ein ur-menschliches Prinzip, und es die Möglichkeit gibt, dass Trump eines Tages selbst aufgibt. "Ich kann mich nicht mehr an besonders viel erinnern", so sein Satz über ein Treffen mit seinem lügnerischen Berater George Papadopoulos zur Anbahnung eines Treffens mit dem RU-Präsidenten Putin. Vielleicht erinnert sich der Mann eines Tages nicht mehr an sein Twitter-Passwort.

*** Nun ist an diesem beschaulichen Sonntag der Guy Fawkes Day, ein weiterer wichtiger protestantischer Feiertag, dem wir zum Beispiel die von Hackern zu tragende Berufsmaske verdanken, verbunden mit dem Gelöbnis, möglichst viele Proteststicker auf den Laptopdeckel zu kleben. Der Tag wird dort gefeiert, wo Margot Käßmann nicht hinkam, etwa in Großbritannien. Auch dort wurden 95 Thesen veröffentlicht, die sich mehr mit dem Diesseits und der IT-Technologie beschäftigen, denn mit Papierkäufen für das künftige Seelenheil. Im Zeichen der allgemeinen iPhone Xysterie ist These 6 ganz interessant, nach der das erste iPhone anno 2007 die vernetzte Welt veränderte wie damals der Mönch Martin Luther die christliche. Hach, das ist so richtig was für den Smalltalk auf Parties, vielleicht nur noch übertroffen von dem Beweis, dass das Web im Jahre 2014 zu sterben begann und heute stinkt. Noch sind in der britischen Version nicht alle Thesen ausgeführt. So wartet die These auf die Erläuterung, dass Google mittlerweile so umfassend ist, dass das Unternehmen als kritischer Bestandteil der öffentlichen Versorgung wie Gas, Strom und Wasser aufgefasst werden muss.

*** Ein anderes historisches Datum verdient Beachtung. Vor 16 Jahren schrieb der damalige CIA-Chef Geroge Tenet am 1. November einen Brief an den deutschen Bundesnachrichtendienst und verlangte ulitmativ, dass die BND-Quelle Rafid Ahmed Alwan a.k.a. "Curveball" vor den Vereinten Nationen sprechen und schildern sollte, wie er im Irak mobile Biowaffenanlagen auf Lastwagen konstruierte. Am 20. Dezember schrieb BND-Chef August Hanning an den lieben CIA-Chef Georg Tenet zurück, dass man die Aussagen von "Curveball" nicht habe verifizieren können. Hanning stellte es Tenet jedoch frei, die Informationen zu verwenden, sofern der Quellenschutz gewahrt bleibe. Nach dieser "Freistellung" fabrizierte die CIA einen Bericht, den US-Außenminister Colin Powell am 5. Februar 2003 vor dem UN-Sicherheitsrat vortrug. Dieser "Beweis" des Vorhandenseins von Massenvernichtungswaffen im Irak ist nun zur einflussreichsten Powerpoint-Präsentation aller bisherigen Zeiten geadelt worden, in einer Geschichte über die Entstehung und Entwicklung dieser Präsentationssoftware. Natürlich kann dieser Titel schnell verlustig gehen, man denke nur an eine Powerpoint-Präsentation zur Eskalation in Nordkorea, angefertigt für den derzeit durch Asien tourenden, noch amtierenden US-Präsidenten Donald Trump. Es sei denn, solch eine Powerpoint-Präsentation überfordert den Präsidenten.

*** Bleiben wir beim CIA und seiner ach so transparenten Arbeit. Kurzzeitig war es am Donnerstag im Web verfügbar, das umfangreiche Bin Laden-Archiv der CIA, mit dem der Auslandsdienst die Stimmung gegenüber dem Iran anheizen will. Während sich Berichte über Häkelvideos und Pornos lustig machen, zeigen Bin Ladens Notizen und ein Video-Interview, dass die Muslimbruderschaft und der frühere türkische Ministerpräsident Necmettin Erbakan mit seinem türkischen Islamismus eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Bin Ladens Islamismus spielten. Erbakan wird in der Wikipedia als politischer Ziehvater von Recep Tayyip Erdogan bezeichnet. Der Einfluss, den er auf Bin Laden hatte – seine allererste Auslandsreise ging in die Türkei zu Erbakan – dürfte zu erforschen sein, wenn die Dokumente wieder auftauchen.

*** Wer nicht mehr auftaucht, ist Muhal Richard Abrams, der große amerikanische Musiker und Komponist. Und einer der vielen amerikanische Künstler, die die Banausen, die immer vom amerikanischen Kulturimperialismus schwafeln, der die europäische oder gar teutsche Kultur kaputt macht, Lügen strafen. Mit der AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians), aus der Formationen wie das Art Ensemble of Chicago hervorgingen, seinen Kompositionen für Jazz-Ensembles oder etwa das Kronos Quartet, und seiner Lehrtätigkeit hatte er nicht nur Teil an dem, was die AACM "Great Black Music, Ancient to the Future" nennt. Sondern auch daran, der ganzen Welt die Freiheit in der Musik zu vermitteln. Nun, da er tot ist, fehlt eine wichtige Stimme. Es wirkt fast schon seltsam, dass gleichzeitig selbst eine Firma wie Sonos, die eigentlich vom Verkauf von Anlagung zur heimischen Beschallung mit beliebiger Musik lebt, sich bemüßigt sieht, eine Initiative für die Freiheit der Musik und die Freiheit der Musiker zu starten: "Musik ist der Anfang von allem. Allerdings ist Musik in der heutigen Welt zunehmend gefährdet. Zu viele Künstler können sich nicht frei äußern. Andere werden verhaftet oder kommen in Lebensgefahr, nur weil sie ihre Songs über das Internet teilen. [...] Die künstlerische Freiheit in den Bereichen Musik und Film wird immer häufiger eingeschränkt. Wenn wir es nicht schaffen, die Musik zu schützen, dann gelingt es uns auch nicht, die Grundfreiheiten aller Menschen zu schützen." Das mag arg pathetisch klingen, diese Begründung für die Initative "Listen Better": Aber manchmal schadet ein wenig Pathos nicht.

Was immer noch im Werden ist, ist diese unsere nächste Regierung mit dem komischen Label Jamaika, das nach These 6 der tageszeitung sowieso verboten ist: "Ein Politikjournalismus ohne Jamaika-Metaphern ist nicht nur möglich, sondern auch nötig." So richtig bacardimäßig geht es bei Schwarzgelbgrün nicht zu, der Eindruck ist, dass da an einer kollektiven Wegfahrsperre gebastelt wird, denn an einem Regierungsprogramm mit Zukunft. Mehr Gigabit und mehr Videoüberwachung, bei gleichzeitiger Entsorgung der ollen Datenschutzgedanken "der 80er und 90er Jahre", das soll es schon gewesen sein. Verglichen mit den aberwitzigen Kosten, die die Digitalisierung der Bildung verursacht, ist das offizielle Digital-Programm der Sondierer kostengünstig und bringt bekanntlich unser alle Sicherheit mal wieder auf eine ungeahnt hohe Stufe. Noch-Innenminister Thomas de Maizière wird auch in der anstehenden Woche Gelegenheit genug haben, für unsere Sicherheitsbehörden weitere "Arbeitserleichterungen" vorzuschlagen, wenn er zusammen mit BSI-Chef Arne Schöhnbohm den Lagebericht zum Stand der Informationssicherheit in Deutschland vorstellt.

Vielleicht verschlägt es de Maizière zurück nach Sachsen, wenn es an die Verteilung der Posten in der nächsten Regierung geht und ein anderer Innenminister aus Bayern dem Proporz seinen untertänigsten Hofknicks macht. Dort schwärmte der künftige Ministerpräsident Michael Kretzschmer von einer ebenso künftigen Kombination aus automatischer Gesichtserkennung und automatischer Halterüberprüfung. Es soll eine Art mobiles Südkreuz-Überwachungssystem direkt im Streifenwagen installiert werden, wie es Netzpolitik von einem zugeschickten Video transkribiert hat: "Wenn man dann sieht, dass es technische Lösungen gibt, die das vollkommen von alleine machen, innerhalb von Bruchteilen von Sekunden und wir es nur deshalb nicht machen, weil wir den rechtlichen Rahmen nicht haben, weil Leute sich hinter Datenschutz verstecken, das kann doch nicht sein." [Applaus im Raum] Applaus, wenn "irgendwie junge gepiercte Typen", die das dicke Auto fahren, sich irgendwie hinter diesem doofen Datenschutz verstecken? Oder sind es diese ewiggestrigen Datenschützer, gegen die da geklatscht wird? Die immerzu meinen, sie hätten etwas zu verbergen und die jetzt sogar die Machtfrage stellen wollen?

So bleibt zum anstehenden Jahrestag des Mauerfalls sinnigerweise der Verdacht an diesem Datenschutz kleben, eine dieser Erfindungen des Westens zu sein. Wussten nicht die Bürger der DDR, was sie an ihrer Stasi hatten, während die Westmimosen gegen einen Staat rebellierten, der ihnen eine Volkszählung auferlegte, die im Osten 1981 anstandslos über die Bühne ging? Am kommenden Donnerstag ist der 9. November, eine Art "Tag- und Nachtgleiche": Die innerdeutsche Grenze ist dann genauso lange offen, wie sie zuvor geschlossen war.

Und die Bilanz taugt nicht für Feierreden, denn es herrscht Mangelwirtschaft allüberall. Wie wäre es dann mit Gelächter? Gestern standen wir doch noch vor dem Abgrund. Vorwärts immer! (mit großer Verbeugung vor Ernst Lubitsch, natürlich) (jk)