Die großen Autofirmen durchleben einen radikalen Kulturwandel

Klartext: Dinosaurier mit Jetpacks

Wo sich heute die Avantgarde des Informationszeitalters trifft, sind die Autohersteller selten weit. Sie suchen dieselben Programmierer wie andere, und müssen sich daher dieser Szene nähern. Ein Wandel der Firmenkulturen

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 21 Kommentare lesen
Klartext 8 Bilder
Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

„Ich verstehe nicht, was die Autohersteller hier wollen“, sagte ein lieber c‘t-Kollege, den ich nach langer Zeit mal wieder traf, in Lissabon auf dem Web Summit. Wir saßen in der kühlen Winterhalbjahrssonne Portugals, gewürfelte Schweinehälften konsumierend, weil die Schlangen beim gesunden Essen bis um den Erdball reichten. Um uns herum strömten junge, in jeder Hinsicht sehr agile Entwickler, Datenfachleute, Konstrukteure, Investoren, alles Köpfe voller Ideen.

Die Verwunderung des Kollegen wird verständlich, wenn man das am weitesten verbreitete Bild von typischen Autoherstellern als Ausgangspunkt hernimmt: alte Strukturen, verkrustet wie ein Kalkriff, Hierarchien ohne Flexibilität, und hinten fällt ein Produkt heraus, das einer anderen Zeit entstammt, einer anderen Welt. Das Problem (oder: „die Herausforderung“, um es auf Summit-Speech zu sagen) hierbei: Dieses Bild stimmt schon seit langer Zeit nicht mehr mit der Realität überein.

Obwohl auf dem Web Summit alle davon ausgingen, dass vollautomatisch fahrende Autos morgen oder spätestens übermorgen mit Sicherheit Realität sein werden, sind sich da mitnichten alle Experten sicher. Über einen Umstand sind sich jedoch wirklich alle einig: Wenn das Autonomobil gelingt, wird es die Gesellschaft sehr stark verändern und mit ihr alle Annahmen über Mobilität, das Auto und die Beziehungen des Menschen zu seinen intelligenter werdenden Maschinen. Angrenzende Felder gehen weit über Autos hinaus, sie tragen das Potenzial in sich, unser Leben auf den Kopf zu stellen. Riesenchancen. Riesenrisiken.

Deshalb gibt es keinen einzigen Autohersteller, der sich nicht massiv damit auseinandersetzt, wo seine Rolle in so einer Welt sein könnte. Wenn wir die Auseinandersetzung der Autohersteller mit dieser Zukunft anschauen, müssen wir ihnen tatsächlich zugestehen, dass sie einen erheblich realistischeren Ausblick auf diese Zukunft zeigen als diejenigen, die sich immer noch krampfhaft am Strohhalm festklammern, dass die Legislative die Automatisierung diktieren werde statt umgekehrt. Warum ist das so?

Jahrzehnte der Digitalisierung

Wir erleben gerade eine Beschleunigung des Faktors „Software“ im Autobau. Software eats the world. Wer jedoch nur diese Beschleunigung sieht, und das passiert tatsächlich sogar im Inneren der Autohersteller, der vergisst und vernachlässigt die Jahrzehnte bisheriger Automatisierung, die zum heutigen Stand geführt haben. Schon 1958 verbaute Chrysler im 300 die erste elektronische Einspritzung, die schon viele Aspekte heutiger Anlagen mitbrachte: elektrische Benzinpumpe, Kaltstartautomatik mit Sensorik, Luftmassensensor, Injektoren, Rails und natürlich eine Steuereinheit. Die Technik hatte der Zulieferer Bendix vorher an die Air Force für Flugzeuge im Koreakrieg geliefert.

Die Platine sah von innen aus wie ein dreimal überfahrener Elektronikbastelkasten und funktionierte entsprechend unzuverlässig. In einem Bendix-Newsletter von 1956 stand dennoch selbstbewusst, dass solche Systeme den Vergaser ablösen und für bessere Performance sorgen würden. Das stimmte. Seit 1979 verbreiteten sich kleine Rechner in Autos, die in Kennfeldern den optimalen Zündzeitpunkt nachschlugen, gewichtet nach Eingabedaten bald Dutzender Kanäle. Heute gibt es im Auto kaum noch Knöpfe, die irgendetwas direkt ohne die Moderation eines Rechners tun.