Apps: Neue chinesische Medizin

Gesundheits-Apps übernehmen in China zunehmend die Funktion des Hausarztes. Entstehen dort Angebote, die auch das deutsche Medizinsystem umkrempeln werden?

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Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Hinnerk Feldwisch-Drentrup

Chinas Regierung hat sich einiges vorgenommen: Sie will die Gesundheitsversorgung im Land deutlich ausbauen und die Zahl der Ärzte innerhalb von fünf Jahren fast verdoppeln. Doch Oliver Wang hat noch größere Pläne. "Wir wollen ein neues Ökosystem für die Gesundheit schaffen", sagt der Manager. Mit gebügeltem Hemd und akkuratem Scheitel sieht der studierte Software-Entwickler nicht wie ein Revoluzzer aus. Sein wacher Blick lässt jedoch vermuten, dass er genau wusste, was er tat, als er vor vier Jahren seinen Posten als Vizepräsident des milliardenschweren Konzerns Alibaba aufgab und begann, in Shanghai an der Zukunft der Medizin zu basteln.

Im Reich der Mitte verschmelzen derzeit die analoge und digitale Welt. Mehr als 700 Millionen Chinesen sind online, fast alle per Smartphone. Digitale Dienste durchdringen den Alltag wesentlich stärker als hierzulande: Es ist normal, per Handy Kinokarten zu kaufen, Essen zu bestellen und per App zu bezahlen. Auch bei der Gesundheit setzt China auf die Digitalisierung. Apps wie Oliver Wangs "Good Doctor" sollen Eltern beruhigen – indem Mediziner sie per Chat beraten, ob die schniefende Tochter nicht besser ein Mittelchen nehmen sollte. Bei Verletzungen können Nutzer schnell ein Foto der Wunde hochladen und sich damit eventuell den Gang zur Klinik sparen. Auch älteren Bewohnern abgelegener Landesteile will Wang so die Möglichkeit geben, mit ausgebildeten Ärzten Verbindung aufzunehmen.

Den Weg bereitet hat unter anderem die Gesundheits-App "Spring Rain". Sie ist seit sechs Jahren auf dem Markt und kommt mittlerweile nach eigenen Angaben auf mehr als 100 Millionen registrierte Nutzer und täglich über 200.000 Konsultationen. Laut einem Sprecher sollen mehr als 500.000 Mediziner nebenberuflich für Spring Rain Anfragen beantworten.

Doch das Team von Wang ist auf der Überholspur: Erst im April 2015 gestartet, ist "Good Doctor" nach Firmenangaben mit nun 160 Millionen registrierten Nutzern bereits der Platzhirsch am Markt und bedient 450 000 Anfragen pro Tag.

Basisdienstleistungen sind für Patienten kostenlos. Der Grund für das rasante Wachstum sind allerdings nicht nur die clevere Technologie und der kostenlose Einstieg. Hinzu kommt ein mächtiger Partner: Entwickelt hat das Angebot eine Tochter des Versicherungskonzerns Ping An – neben der Allianz und Axa einer der größten Versicherer der Welt. Damit konnte Wang auf die Vertriebswege und Werbemöglichkeiten des Versicherungskonzerns zurückgreifen und erreichte schnell äußerst viele Menschen.

Auch beim Geld scheint Wang nicht sparen zu müssen. Er hat nach eigenen Angaben nicht nur Zehntausende Mediziner unter Vertrag, die nebenberuflich für ihn arbeiten, sondern auch rund tausend Ärzte in Vollzeit. Fast alle Fachrichtungen sind vertreten: Internisten und Allgemeinmediziner ebenso wie Frauenärzte, Psychiater und Onkologen. Damit ihre Leistung stimmt, gehört auch sozialer Druck zum Konzept. Im Großraumbüro von "Good Doctor" zeigen Screens nicht nur in Echtzeit an, wie viele Anfragen aus welcher Provinz Chinas eingehen – sondern auch, welcher Arzt im Laufe des Tages die meisten Kunden bedient hat.

Damit hat China in erstaunlich kurzer Zeit erreicht, was in Deutschland seit einem Jahrzehnt nicht glückt: Patienten über digitale Technologien neue Versorgungswege zu ermöglichen. "Auf der Gesundheitskarte gespeicherte Notfalldaten können Leben retten", heißt es beim Bundesgesundheitsministerium zwar – doch die digitalen Karten speichern bislang praktisch nur die Adressen von Patienten. Schon bei Informationen zu eingenommenen Medikamenten verzögert sich die Umsetzung seit Jahren. Und wann Notfalldaten auf der elektronischen Gesundheitskarte abgelegt werden können, ist weiter ungewiss.

Überrollen chinesische Anbieter nun den deutschen Markt? Wang jedenfalls hat bei seinen Expansionsplänen bereits das Ausland im Blick. "Good Doctor" erhielt im letzten Jahr nach eigenen Angaben Investmentgelder in Höhe von 500 Millionen US-Dollar und wurde anschließend auf einen Wert von drei Milliarden Dollar geschätzt. Der Mutterkonzern Ping An legte kürzlich einen Fonds in Höhe von einer Milliarde Dollar auf, um weltweit in Gesundheits- und Finanztechnologie zu investieren. Geld ist also verfügbar, doch auf dem US-Markt – Wangs erstem Ziel – und in Europa sind die Hürden deutlich höher.

Zwar versprechen sich Krankenkassen und Behörden auch hierzulande sinkende Kosten und eine bessere Behandlung über digitale Technologien. Doch die Lage der Patienten ist ungleich besser, der Druck, auf digitale Dienste zurückzugreifen, entsprechend geringer. In China dagegen sind "die Gesundheitsressourcen allgemein betrachtet mangelhaft, die Qualität ist zu gering, und unsere Strukturen sind schlecht organisiert", stellte der chinesische Staatsrat 2015 fest.

Chinesen müssen für einen normalen Arztbesuch in der Regel mindestens einen halben Tag einplanen, sie sind morgens möglichst früh am Krankenhaus, um nicht zu lange warten zu müssen. Niedergelassene Mediziner gibt es praktisch nicht. Frustrierte Patienten greifen immer wieder Ärzte an, manchmal enden die Attacken tödlich. Das Einkommen von Medizinern ist meist niedrig, daher kassieren sie oft illegal nebenher. In den Kliniken landen Patienten zudem immer bei einem anderen Mediziner. In den Apps dagegen können sie gegen eine kleine monatliche Gebühr einen persönlichen Arzt buchen, der sie und ihre Krankheitsgeschichte kennt – einen digitalen Hausarzt gewissermaßen. "Patienten sind stinksauer – und es ist bequem", fasst Wang die Motive der Nutzer zusammen, "Good Doctor" einzusetzen.

Zudem erleichtert die geringe Regulierung den Angeboten das Geschäft. In Europa beispielsweise tritt nächstes Jahr die neue Datenschutzgrundverordnung in Kraft. In China dagegen sind bei diesem sensiblen Thema Einwilligungserklärungen und Sicherungskonzepte bislang kaum üblich. Dabei sind die Begehrlichkeiten auch in China groß. Arbeitgeber wüssten gern mehr über ihre Mitarbeiter – und Versicherungen über ihre Kunden. Ping An dürfte da keine Ausnahme sein. Wang betont zwar, dass es "in China nicht erlaubt ist, Daten mit der Versicherung auszutauschen". Er gibt aber zu, dass die Regierung kaum weiß, wie sie den Markt regeln soll.

Diese Schwäche zeigt sich auch in anderen Bereichen. Wie in Deutschland ist es in China bislang offiziell nicht erlaubt, Patienten nur aus der Ferne zu behandeln. Daher bezeichnen die Firmen ihre Dienste nur als Beratung, die sie Patienten anbieten. Kontrolliert wird das System allerdings fast nicht, niemand stellt sicher, dass die Behandlungsqualität stimmt.

Für Wang mahlen die Mühlen der Regulierung in Sachen Digitalisierung zu langsam – deshalb schafft er selber Fakten. "Wir brauchen unseren eigenen Plan", sagt er. Das Ökosystem, das er inzwischen aufgebaut hat, will er monetarisieren. "Das Wunderbare ist, dass alle möglichen Geschäftsmodelle offenstehen", sagt Wang. Die Versicherung kann Kunden binden, indem sie ihnen exklusive Zugänge zu den digitalen Ärzten anbietet. Durch den Verkauf von Arzneimitteln generiert sie Provisionen, hinzu kommt Werbung. Auch Kooperationen mit Krankenhäusern helfen – denn auf Skalpell und Spritze können auch digitale Patienten nicht immer verzichten.

(bsc)